
„Vertell, vertell! Diu ruikest sau schoin no Schnaps.“
Sauerländisches Sprichwort
Das Wort Vertellstückskers ist ein Neologismus. Diese Bruchstücke aus der Realität sind verwandt mit den Miszellen*, dies ist eine Bezeichnung für eine Rubrik, unter der Kurztexte variierenden literarischen Inhalts veröffentlicht werden.
Wird Netz-Flüchtigkeit zur Text-Flüchtigkeit?
Clemens Johann Setz war Twitter-Fan und wollte seine Gedichte nur noch dort veröffentlichen – bis Elon Musk Twitter zu X umwandelte. Nach seiner Übernahme ist es zum Spielzeug des anscheinend völlig durchgeknallten Milliardärs geworden. Musk kann Twitter im Grunde nur zugrunde richten, schreibt Linette Lopez in einem lesenswerten Essay im Business Insider. Musks Prinzip bei seinen anderen Unternehmen war stets, in eine Lücke zu stoßen, wo noch keiner war, weltveränderde Versprechen zu machen und Geld von Fanboy-Milliardären und Staaten einzuwerben. „Twitter ist das Gegenteil einer ‚Elon-Musk-Firma‘. Es ist ein einflussreicher aber kleiner Player in einem Feld, das von gigantischen und gut mit Geld ausgestatteten Wettbewerbern dominiert wird. Regierungen weisen Twitter eher in Schranken, als es mit Staatsaufträgen zu versorgen. Und Twitter-Angestellte haben Optionen: Sie können den Laden verlassen und für Firmen arbeiten, die sie besser behandeln, als Musk es je tun würde.“
„Aus Twitter ist „Xitter“ geworden, was man im Englischen unterschiedlich aussprechen kann, als „Zwitter“, aber auch als „Shitter“.
Timothy Garton Ash
Der Herausgeber Setz gibt vor, seine Online-Skizzen vor dem Löschen retten zu müssen. Das Produkt der holzverarbeitenden Industrie „Das All im eignen Fell“ dokumentiert eine Auswahl seiner Twittergedichte, erläutert auch Stilmittel und stellt auch Accounts vor. Der Schwanengesang auf das Ende der Twitterpoesie, ist nicht ganz ohne Komik. Setz hat vor einiger Zeit postuliert, seine Gedichte nicht mehr in Buchform veröffentlichen zu wollen, nun muss er sich revidieren. Der Autor begibt sich mit einer Auswahl seiner auf Twitter publizierten Gedichte in die Schutzzone des Urheberrechts und veröffentlicht beim Suhrkamp Verlag. Sein „Erinnerungsbuch“ trägt den Untertitel „Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“, er sieht es als eine Art Rettungsprojekt. Die Tatsache, dass so viele poetische Einfälle für immer verloren sind, schmerzt den Autor.
„Heute Abend roter Mond / Mars noch immer unbewohnt / aber dafür ziemlich hell / Spür das All im eignen Fell“
Clemens J. Setz im Titelgedicht.
Es ist einerseits clever, weil sich Suhrkamp damit an die Neuen Medien andocken kann, andererseits auch naiv von Setz, weil er wissen sollte, dass jeder schlecht gelaunte Admin Beiträge löschen kann, wenn es ihm passt, Urheberrechte interessieren die in Cupertino angesiedelten Firmen nicht, alles, womit sich die KI füttern lässt, kommt gerade recht.
Die klassische Autorschaft eines Autors als Genie ist perdü.
Mit einer ursprünglichen Beschränkung auf 140 Zeichen pro Tweet setzt die neue Gattung Twitteratur auf die Tugenden epigrammatischer Kürze, Aphorismen lassen sich als analoger Vorläufer bezeichnen. „Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb.“, schrieb der Herausgeber des analogen Blogs Die Fackel, der begnadete Zyniker Karl Kraus. Bereits zwischen 2006 – 2009 finden sich auf Twitter selbständige einzelne Gedanken, Urteil oder Lebensweisheiten. Aufgrund der Reduzierung auf 140 Zeichen sind es oft nur ein Satz oder anderthalb Sätze. Oft formulieren die User eine besondere Einsicht rhetorisch als allgemeiner Sinnspruch, als eine Sentenz, Maxime, Aperçu oder Bonmot. Auch finden sie hier geflügelte Worte oder pointierte Zitate oder eben das, was bislang als Aphorismus bekannt ist.
Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter war das Aperçu in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.
Twitteratur folgt einer Verdichtungsökonomik, sie ist eine Poesie, die man von den japanischen Haiku kennt, sie scheint auf besondere Weise verfügbar und dienstbar zu sein. Bestand die Modernität dieser Mikrogramme bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Bisher bilden die Mikrolithen in der Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist das Aperçu in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.
Bedeutet die Feststellung Existenzminimum, dass man seine Existenzberechtigung verloren hat, sobald man darunter liegt?
Die Produktion von Ambiguität – was Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der Kunstform der Twitteratur wieder. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen. Die retardierende Unterbrechung, führt zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, dass erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht.
Kritik bedeutet unterscheiden, was sagen die Kritiker des Unterscheidungsvermögens?
Laptops, Tablets und Smartphones haben die Alltagskommunikation entscheidend verändert und neue Inhalte und Formen literarischen Erzählens hervorgebracht, etwa die Twitteratur.
***

Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie, von Clemens J. Setz, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024
Bereits fünf Jahre zuvor erschien einer 4. überarbeitete Auflage: Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.
TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen, von Jan Drees und Sandra Anika Meyer. Frohmann Verlag, 2015
Weiterführend → Die Redaktion hat Holger Benkel gebeten einen einführenden Rezensionsessay über den Aphorismus zu verfassen. Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser Gattung.
* Miszellen (von lateinisch miscella ́Gemischtes)