Der Nonkonformist, ein Nachruf

Nonkonformisten sind in ihrer Zeit Verkannte, Unvollendete, deren spektakulärer Misserfolg oder früher Sturz ihr Werk und Wirken vor der Profanierung schützt.

Das Wort der Nonkonformität hat sich verflüchtigt, weil heutzutage das Selbstbewusste als Norm erscheint

Meine dienende Funktion besteht darin, im Hinterland Formen für die heutige Welt zu finden und auf dem Schrottplatz des www das Herausragende neben dem Abseitigen zu entdecken. Daher schätze ich jeher Nonkonformisten die außengesteuerte Mitmenschen verachten, Normopathen, die nur als Herdentiere leben können. Es geht diesen Nonkonformisten darum, nicht ­mitzumachen. Die Zuschreibungen und Normen, die gesellschaftliche Rollenbilder ausmachen und an Gruppenzugehörigkeiten geknüpft sind, weisen die Nonkonformisten harsch zurück. Den sozialen Status verachten sie, weil „die gute Gesellschaft“, die ihn verleiht, nicht ihre Anerkennung findet, sondern es ihnen von als degoutant empfunden wird, sich danach zu richten, „was andere Leute“ denken. Die Herdenmenschen   verachten ihn ihrerseits zuerst, dann bewundern sie doch heimlich.

The Notorious R.D.B

Die Dirty Speech-Bewegung in der BRD ist mit der Rolf Dieter Brinkmanns „Acid““ zu verorten ist. Es war eine Anthologie amerikanischer Beatliteratur, gesammelt und damit den Versuch eröffnend, auch in der deutschen Dichtung die bürgerliche Moral zu brüskieren, lyrische Formen zu banalisieren, den Alltag zum Thema zu machen und Sex, Brutalität, Perversion als Sujets zu akzeptieren. Zum Helden des Underground wurde auch Heinrich Karl Bukowski, das war sein Taufname, als er am 16. August 1920 in Andernach, 15 Minuten nordwestlich von Koblenz, als Sohn eines US-amerikanischen Besatzungssoldaten geboren wurde. Aus Heinrich Karl wurde Charles Bukowski, Dichter und Schriftsteller, der Mann mit der Ledertasche, der schlechte Verlierer und derjenige, der detailliert bestimmte Männerfantasien beschrieb: ungehemmter Junggeselle, schlampig, unsozial und frei – ob in Gedichten, Kurzgeschichten oder Romanen. Er ist ein erfolgreicher Vertreter des Undergroundstils und drastischer Beobachter städtischer Unterschichten und gesellschaftlicher Außenseiter. Er befindet sich zeitlich und geografisch irgendwo zwischen Beat Generation und Gonzo-Journalismus, ist diesen Stilen aber nicht zuzurechnen. Er steht ihn in der Tradition des Trash. In der alten BRD feierte Bukowski seinen Höhepunkt als er 1978 die Bundesrepublik besuchte; bei seiner Lesung in Hamburg wurde er gefeiert wie ein Popstar. Diese Deutschlandreise führt ihn auch nach Andernach, wo er seinen Onkel besucht.

1992 erschien im Essener Isabel-Rox-Verlag die Underground-Anthologie „Downtown Deutschland“, sie steht am Anfang dessen, was in den darauffolgenden Jahren als Social-Beat-Bewegung von sich Reden machen sollte. Eine kleine Gruppe von Autoren als „Generation“ zu bezeichnen, soll den Anspruch verstärken, daß sie repräsentativ und wichtig für die Entwicklung einer neuen Stilrichtung sind. Der Pressetext aus dem Literaturhaus Stuttgart kam etwas vollmundig daher und nennt den sogenannten „Social Beat“ mit dem Beat-Bewegung in einem Atemzug:

„In den 1940er bis 1960er Jahren ließ eine Gruppe von amerikanischen Autor die moderne Literatur erbeben – mit Schockwellen rund um den Globus. Die Beats revolutionierten die literarische Sprache: Straßenslang und spontanes Schreiben wurden en vogue, ihre Themen waren existenzieller Nomadismus und moderne Sinnsuche, sie stellten ihre Werke in umgebauten Garagen und Musikclubs vor. In den 1980er/90er Jahren kam es in der Bundesrepublik zu einem Nachbeben: Junge, wilde Schriftsteller*innen loteten die Grenzen der Literatur aus: mit Texten, gespeist von ihrem unmittelbaren Erleben, inspiriert von Dada und den Beats, mit Formen zwischen Happening, Performance und Lesung, jenseits der etablierten Orte der Literatur.

Der Begriff Beat wurde von Jack Kerouac geprägt und ist die Kurzform von beatitude – Glückseligkeit. Ferner bezeichnet Beat einen speziellen Rhythmus im Jazz, der Musik die die jungen Intellektuellen Amerikas in ihren Bann zog.

Josef „Biby“ Wintjes, Photo: Bruno Runzheimer

Der unermüdliche Aktivist Michael Schönauer hat für den Social Beat in etwa die Bedeutung, die Josef „Biby“ Wintjes für das Nonkonformistische Literarisches Informationszentrum hatte. Die „Underground-Anthologie“ Downtown Deutschland wird, nach allen verlässlichen Quellen, als die Geburtsstunde des Social Beat angesehen. Diese Cover-Version einer „Jugendbewegung“ wurde 1993 als Schlagwort des Berliner Literaturfestivals „Töte den Affen“ von Jörg A. Dahlmeyer und Thomas Nöske, abgeleitet von der amerikanischen Beat Generation, Charles Bukowski ist gleichfalls ein Vorbild. Der Aktivist Michael Schönauer schuf sodann wesentliche Strukturen für die Social Beat-Szene. Die Interaktion mit verschiedensten Künstlern rückte er in den Vordergrund. Literatur wurde wieder zur Performance. Bildende Kunst, Tanz, Musik und Dichtung als Elemente des Events. 1993 hatten sich während der Mainzer Minipressenmesse Protagonisten, die zum Teil in Downtown Deutschland, (erschien 1992 im Verlag von Isabel Rox), getroffen, um ein Magazin herauszugeben. Darunter befanden sich Roland Adelmann, Oliver Bopp, Hardy Crueger, Kersten Flenter, Hadayatullah Hübsch, Ingo Lahr, Andi Lück, Thorsten Nesch, Robsie Richter, Mario Todisco und besagte Dahlmeyer und Nöske.

Von 1987 bis 1996 veröffentlichte Robsie Richter das Literatur-Fanzine Kopfzerschmettern, das für viele andere Social-Beat- und Literatur-Fanzines richtungsweisend war.

Die ersten Zeitschriften dieser Underground-Bewegung waren drei so genannte Lit(eratur)-Fanzines: Die seit Mitte der 1980er Jahre herausgegebenen Ikarus (Mainz) – später Das Dreieck, Kopfzerschmettern (Hanau) und Produkt (Duisburg). Ihr Erscheinungsbild orientierte sich anfangs noch an der boomenden Punk-Fanzine-Szene. Ende der 1980er und Anfang der 1990er erschienen eine Vielzahl weiterer Zeitschriften und Magazine, die in Inhalt und Aufmachung variierten: 3D-Silbig (Bochum), Art & Decay (Schwarzenberg), Bulletten Tango (Bochum), Brain Surfer (Engelswies), Cocksucker (Riedstadt), Die asoziale Beate (Goldberg), Der Störer (Braunschweig/Berlin), Gästepost (Berlin), Härter (Münster), herzGalopp (Hamburg), HOKAHE (Göttingen), Holunderground (Frankfurt), Kaleidoskop (Berlin), Krachkultur (Lintig-Meckelstedt/München), Kultur-Terrorist (Leverkusen), Labyrinth & Minenfeld (Osnabrück), Minotaurus (Cottbus), Rude Look (Bederkesa), Secret Looser (Wiesbaden), SUBH (Cottbus und Braunschweig), Ventile (Mainz) und Vergammelte Schriften (Leipzig). Viele dieser Projekte sind im Laufe der 1990er eingestellt worden.

›Kaltland Beat‹ ist die Bestandsaufnahme einer Krise, nämlich Manifest der Erkenntnis, dass das Projekt der Moderne mit seinen diversen Ansprüchen nach Originalität, Vitalismus, Avantgarde, Präsenz, Dissidenz, Schock und Aufhebung von Kunst und Leben auch im literarischen Underground historisch geworden ist. […] Damit ist ›Kaltland Beat‹ aber zugleich auch die beste deutschsprachige Anthologie zum Thema, eine die alle anderen glatt ersetzt.

Martin Büsser, Testcard / Beiträge zur Popgeschichte

Vereinzelte, schwer definierbare Erscheinungen wie Underground, Subliteratur, Außer-Literarische Opposition, Trash– und Cut-up-Schreibtechniken, Fanzines… um nur einige unter vielen zu erwähnen, weisen altbekannte und theoretisch eingeordnete kulturelle Verhaltensmuster und Gemeinsamkeiten auf: Sie sind die beweglichen Bestandteile einer „Szene“, die, wie schon immer Szenen, Auf- und Austritte, Großartiges und Stinklangweiliges, Neues und Altes, aber vor allem Unmittelbares, Lebendiges und risikoreiches Experimentieren an den Tag bringt.

Der Band sammelt eine Auswahl „anti-elitärer Literatur im Geiste von Brinkmann und Bukowski“ aus den 90er Jahren, als Poetry Slams in jeder Kleinstadt veranstaltet wurden. Die Auswahl der journalistischen Beiträge (u.a. von Marc Degens, Benno Käsmayr, Dr. Enno Stahl) reicht von der rein soziologischen Erklärung des Phänomens Subkultur über die Beleuchtung der „geistigen“ Aspekte derselben bis hin zu der historischen Entwicklung der Subkultur(en) im 20. Jahrhundert.

Was für die Außenstehenden und selbst für viele Insider spontane Wildwüchse darstellt, ist für Subkulturforscher wie Rolf Lindner oder Rolf Schwendter sowie für die »Schreibtischtäter« des Undergrounds schon längst eine Selbstverständlichkeit: Subkultur bedeutet zwar noch keine Avantgarde, aber jede Avantgarde entspringt einem subkulturellen Nährboden. Denn sowohl Subkultur als auch Avantgarde sind, noch bevor sie sich als „Dinge“ (Thomas Stemmer) manifestieren und sich in ihnen schließlich verlieren, Sicht- und Verhaltensweisen des Einzelnen und/oder der Gruppe.

Mit dem Begriff der „Szene“ stehen die Herausgeber sicher und zugleich unsicher da. Sicher, denn sie verzichten bewusst auf den Anspruch, mehr als einige provokative Gedanken und verhältnismäßig wenige „Beweise“ mit diesem Buch in die Runde zu werfen. Unsicher, denn ihre Herausforderung bleibt nur so lange eine solche, als die im Buch abgedruckten Texte jenseits der provokativen Posse als Literatur von den Leseren empfunden werden.

„i jump in & off we go“

ruth weiss

„Literatur und Subkultur – nur ein Zeitgefühl?“ Der Social Beat ist eine Grenzgänger-Literatur: die Grenzen zwischen Ich-Erzähler und Autor, zwischen Fiktion und Realität verschwimmt, man kann sie als ‚Bekenntnis‘-Literatur bezeichnen. Wie jede Jugendbewegung seit den Wandervögeln im 19. Jahrhundert sind diese Typen (zumeist junge weiße Männer) auf der Sinnsuche eines modernen „Geworfenen“. Betrachtet man die Geschichte der Jugendbewegungen, so folgten den Riots in den englischen Vorstädten, in Hamburg bei Rock-’n‘-Roll-Konzerten von Bill Haley, die „Schwabinger Krawalle“ Anfang der sogenannten Sixties, vor Paris oder anderswo, Tumulte im Zürich der achtziger Jahre – Empörung nicht nach dem Schema Rassismus/Ausgrenzung/Diskriminierung, sondern mit der Lust am eigenen Irresein, an der Noch-nicht-Eingepasstheit der Erwachsenen mit der Ungewissheit an der eigenen Perspektive, dies gerade im Ländle. Diese Jungmänner erzählen gern breit von ihren Schwächen und Süchten, meist in Verbindung mit Alkohol. Wenn Frauen bekennen, geht es dagegen meist um Sex. Von daher mag man es bedauern, daß der Social Beat sowenig Autorinnen hervorgebracht hat.

Social Beat SLAM!poetry 1 wird als „Rote Bibel“ des Social Beat bezeichnet

Das kleine Rote Buch von Mao Tsetung, war in den 1960ger Jahren als Rote Bibel geläufig. Dieses Buch eines Diktators stellt ein Referenzwerk für die literarische Strömung des Social Beat dar. Das von Michael Schönauer herausgegebene Social Beat SLAM!poetry 1 versteht sich als eine szene-relevante Recherche mit Beiträgen von 74 Autoren und Autorinnen. Man kann im Ländle den Hunger nach künstlerischem Aufbegehren und Innovation ahnen. Sich schreibend mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen, hat für diese Autoren etwas Eitles. Diese Jungmänner formulieren ein Bedürfnis nach Abgrenzung, Rebellion und dem Wunsch Teil einer Bewegung sein, wie die Tocos formulierte. Zu lesen ist ein Konformismus der Resignation, eine lähmende linke Melancholie-Routine, die Autoren des Social Beat formulierten Hilflosigkeit und Tristesse. Die Anzahl der sprachlichen Mittel ist beschränkt. Fast ausschließlich die rhetorischen Figuren der Wiederholung scheinen es den Autoren, (oder sollte man besser vom Textproduzenten sprechen?), angetan zu haben und sie wiederholen sich stetig. Diese Off-Szene wagte den Bruch mit den Bräuchen ohne über die literarischen Möglichkeiten zu verfügen eine neue Tradition zu begründen.

Der interessanteste Autor, den der Social Beat hervorgebracht hat, ist eine Frau

Der interessanteste Autor, den diese Bewegung hervorgebracht hat, ist eine Frau, Gudrun Rupp aka Ní Gudix. Sie arbeitet vor allem als freie Literaturübersetzerin und betätigt sich zudem als Schriftstellerin, Theaterautorin und Rezitatorin. Als Ní Gudix veröffentlichte diese vielseitige Autorin zahlreiche Texte, Essays und Übersetzungen in verschiedenen Anthologien und Literaturzeitschriften. Der Dialog zwischen Text und Übersetzung ist jedoch nicht die einzige Dimension der mannigfaltigen Auseinandersetzung mit Sprache und ihres Transfers in unterschiedliche Medien. All diese Gattungen besitzen für diese Autorin uneingeschränkte Relevanz.

Ní Gudix aka Transliterarix

Unter dem Label Transliterarix übersetzte sie u.a. Robert Burns, Miguel „Mike“ Gilli und Metta Victor, etwa das Tagebuch von nem schlimmen Schlingel von Metta Victor, das bei Killroy Media erschien. Dies ist ein Klassiker der Lausbubenliteratur und war ein Weltbestseller dazu. 1880 in New York erschienen, war Georgie Hackett, der Held des Buches, genauso bekannt und beliebt wie seine Zeitgenossen Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Und es ist auch nicht so, daß er danach vergessen worden wäre. Er wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, es gibt ihn sogar auf Hebräisch – nur wurde, da vielen das Original zu heftig erschien, sprachlich zu revolutionär (im Slang und mit fehlerhafter Orthographie) und vom Inhalt her manchmal zu wild und zu anarchisch, gerne auf eigene Faust im Text herumgekürzt und „verschlimmbessert“. Ihre Übersetzungen bleiben nah an den Ursprungstexten, wodurch vor allem der semantische Gehalt sowohl der deutschen Texte in den Vordergrund rückt. Gleichfalls empfehlenswert ist daher Die Freien. Ein utopisch-anarchischer Roman von M. Gilliland mit der Übertragung aus dem (nord-)irischen Englisch, und mit Anmerkungen von Ní Gudix. Diese von Ambivalenzen, Zweifeln und Paradoxien geprägte Suchbewegung macht dieses Buch über das Leben von Freiheitssuchern zu einem literarischen Ereignis.

Was darf Dokumentarlit?

Die Ausstellung dokumentierte die Social Beat-Szene, in der der Großraum Stuttgart eine wichtige Rolle spielte, mit Original-Dokumenten aller Art. Die Aktivisten der Szene haben ihr Archiv zur Verfügung gestellt. Umrahmt wird das Ganze von Porträts und Dokumenten der Beats, exklusiven Portraits der Beat-Autoren von Jim Avignon und garniert (digital und womöglich live) mit Veranstaltungen und Lesungen, Filmen, Audioclips und Bücher-Vitrinen. Erstmals öffentlich zu sehen ist zudem eine Foto-Serie der Social Beat-Künstlerin YAM über den lange vergessenen Beat-Lyriker Taylor Mead.

Wie wahrhaftig ist Dokumentarlit?

Die Dokumentation zeigte vor allem eins: Der Social Beat war ungehobelt und polarisierend, mit einem untrüglichen Gespür für ebenso banale wie treffende Lebensweisheiten. Dieses Schreiben ist ein Am-Leben-Bleiben. Künstlerisch gestaltet wird eher wenig, es hat den Anschein des Dokumentarischen. Es hat wahrscheinlich keine Jugendbewegung gegeben, die ihre Leidensarroganz besser zu Schau gestellt hat. Sich als desillusionierte Außenseiter inszenierende Typen schreiben gegen das öde Leben in der Gosse an.

Wie viel Inszenierung ist bei der Dokumentarlit erlaubt?

Was ist Social Beat? fragt der Herausgeber Boris Kerenski in einer Publikation zur gleichnamigen Mailart-Aktion (Killroy media, Asperg 1998). DaDa ick hör dir trapsen;-)

Bevor der „Beat“ zur Pop-Literatur verniedlicht wurde, gab er sich gefährlich. In einer Zeit, da Originalität von der Stange erhältlich ist, präsentiert sich der Underground schrill, um Aufmerksamkeit zu wecken. Zu Social Beat erwartet man ein fotokopiertes und zusammengetackertes Fanzine und erhält eine hochwertig gemachte 40-seitige-Broschüre, die als eigenständige Sachpublikation angelegt ist. Boris Kerenski hat seine Fähigkeit als Herausgeber mit Kaltland Beat unter Beweis gestellt, in 1999 bereits die Bestandsaufnahme einer Krise, gesellschaftlich und vor allem literarisch. Seinen künstlerischer Blick bei der Mailart-Aktion Was ist Social Beat? ist bestechend. Der Katalog des konzeptionell bewanderten Boris Kerenski zeigt, dass der Social Beat frei ist von jeglichen programmatischen Schlachtrufen oder einem Credo, dem man als künstlerisches Kollektiv gemeinhin Folge leistet. Man darf, soll und kann alles produzieren und darstellen. Somit sind den Ausdrucksmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Die Grenzen werden nur vom individuellen Profil des Künstlers diktiert, das wiederum eine homogene Szeneformation unmöglich macht. Eine Szene ist wohl auch gar nicht erwünscht, denn schließlich haben nur eigenwillige Erfahrungswelten absolute Gültigkeit.

Social Beat ist zu 99% das, was man fühlt, wenn man um die 20 ist, und was man besser nicht zu Kunst formen soll, wenn man immer noch keine Ahnung von Kunst hat … alle diese Durchschnittsgedanken, dieses ausgekotzte Nichterwachsenwerden-wollen: Selbst-Punktieren der Hirnflüssigkeit und Verteilen der Gedanken und Gefühle mit breitem Pinsel auf viele Blätter. Trocknen lassen. Dann die Blätter zerschnipseln und nach Reizwörtern collagieren. Kleine gesuchte Witzigkeiten sind Trumpf. Small talk, Sozial-Getue, leeres Kulturgehabe diese Selbstumarmungen.“

Ulrich Bergmann

Bereits für die Underground-Anthologie „Downtown Deutschland“ schrieb Roland Adelmann ein bemerkenswert lakonisches Vorwort. Er ist sich seither treu geblieben und gilt als einer der wichtigsten Vermittler der als UndergroundLiteratur betitelten alternativen Form. Und er verspricht nicht zuviel: „RUP versammelt die wichtigsten Vertreter und Vertreterinnen des Social Beat & der UndergroundLiteratur“. Seit Jahren gibt er mit dem Magazin MAULhURE einen Überblick über die Szene und wahrscheinlich ist er der Einzige, aus dessen Mund das Schlagwort „Underground“ nicht nach Marketing klingt. Bei RUP findet sich Provokation in Form von Alphaltlit, Autorendasein als Lebensform und eine die Grenzen des Kanons sprengende Literatur. Es ist eine literarische Strömung, die sich an der amerikanischen Beatliteratur und dem Underground orientiert. Dieser Aktivist meint er ernst, vor allem mit Rodneys Underground Press (RUP) versucht er den Laden seit Jahrzehnten zusammenzuhalten.

Nächste Ausfahrt: Overground

Zum 30jährigen Jubiläum der inzwischen als legendär verklärten Anthologie „Downtown Deutschland“ finden wir Beiträge der Beteiligten, die der Realität verfallen sind, vor allem von Heiko Kuhlmann, Boris Kerenski, Robsie Richter, Marvin Chlada, Kersten Flenter, Daniel Dubbe, Axel Klingenberg, Ingo Lahr, Walter Hartmann, Hermann Borgerding, Christian C. Kruse, Andi Lück, Roland Adelmann, Jerk Götterwind. Ihre Texte sind bedingungslos realistisch und von einer Sehnsucht nach Nähe in der kalten Betonwelt geprägt. Sie führen die Leser zurück in die Welt der Abgehängten, der Kaschemmen und verwelkten Träume und gelangen durch die abweichende Randpostion zur Gesellschaftskritik. In ihren Geschichten deuten sich Authentizitätsdiskurse, Männlichkeitsrituale und ein Schreiben an, das immer an die Grenzen gehen will. Sie lassen noch einmal alles sichtbar werden, was ohnehin seit langem offensichtlich ist: Auf der Kurzstrecke wuppt et, einen Romancier hat der SB nicht hervorgebracht und mit Ausnahme von Thomas Nöske keinen Essayisten, der ansatzweise versucht hat mit in einem Essay mit Nietzsche fertig zu werden. Seitdem veröffentlichte Nöske zahlreiche Publikationen über Themen der Kunst, Popkultur, Alternativliteratur, kritischen Theorie und Science-Fiction. Insbesondere befasste er sich mit der Reflexion von Kultur und Kulturpolitik im Zusammenhang mit negativ-utopischen Intentionen. Seit Anfang der 2000er Jahre publizierte Nöske vor allem kulturkritische Aufsätze und beteiligte sich an mehreren Anthologien. Schade, dass er in #9 nicht zu finden ist, sondern eher authentische und leicht verschwitzte Berichte von Überlebenden aus der Innenstadtfront, die uns noch einmal eintauchen lassen in eine Zeit, die noch von Übersichtlichkeit und klaren Feindbildern geprägt war. Wir sollten uns besser nicht danach zurücksehnen sondern darüber nachdenken, was Underground heute noch bedeutet.

„Ich konstruiere keine Romanfigur. Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich gewesen bin […] Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.“

Annie Ernaux

Seit die Proletarierin Annie Ernaux den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, flammt das Interesse an autofiktionaler Literatur wieder auf. Ihr Werk ist ganz entschieden autobiografisch. Wiederholt thematisiert sie ihren eigenen Lebensweg vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin. Dieser Selbstfindungsprozess spiegelt sich auch im Wandel ihres Stils. 2003 kreierte Ernaux den Begriff der „Autosoziobiographie“ zur Bezeichnung der Literaturgattung ihres Werkes. Die Französin betrachtet ihr Werk im Zusammenhang von Literatur, Soziologie und Geschichte und „will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden“ und so die Geschichte mit Leben füllen. Ähnlich wie die Beats beschreibt sie ihr Ich als fragmentarisch, nicht kontinuierlich, vom Zufall bestimmt. Die literarischen Verwandten von Annie Ernaux und Didier Eribon in Deutschland sind Daniela Dröscher, Christian Baron, Dincer Gücyeter und Mithu Melanie Sanyal.

Ist der Underground nun im Overground angekommen?

Sobald sich so viele Nonkonformisten auf demselben Abseitsweg befinden, und damit einen neuen Trend markieren, entwickelt sich ein Konformitätsdruck dorthin, dem die Masse nur zu allzugern folgt. Nonkonformisten kümmern sich nicht darum, wie die Welt normalerweise funktioniert. Der Druck, der eigenen Persönlichkeit zu folgen, ist größer als der Druck der Umgebung nach Anpassung. Nonkonformisten setzen ihre Leser auf ein politisches und philosophisches Karussell, von dem sie nie wissen können, wann es je wieder anhalten wird. Nonkonformisten sind Ewigsuchende, sie geben sich nie zufrieden mit dem, was ist. Sie will das Ende von Gewalt und von Herrschaft. Sie wollen ein unwiederbringliches Leben. Und das möglichst vor dem Tod.

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Downtown Deutschland: Underground-Anthologie Taschenbuch, Isabell Rox-Verlag –  Januar 1992

MAULhURE No 9 – Prosa & Gedichte // Softcover, Format 14,8 x 21,0 // 238 S. // RUP 2022

Cover der Erstausgabe, 1992

Weiterführend → Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat. Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.