Ein Fest in vielen Zungen

„Communication breakdown, it’s always the same
Havin‘ a nervous breakdown, drive me insane“

Led Zepplin

Der Satz „Ein Fremder würde sich hier nicht verlaufen!“ impliziert, dass dies ein gut strukturierter Ort ist, wo es nicht schwierig ist, sich zurechtzufinden…

Die Verständigungsarbeit zwischen Tier und Mensch ist – um es vorsichtig zu sagen – schwierig. Die Katze ist überzeugt davon, dass der Einfühlungs- und Verstehensprozess des Sauerlands – so dies überhaupt möglich ist – neben der rein historischen auch eine affektive Dimension benötigt. Das ethische Verhältnis des Schmieds zu Félin ist auf das Wohl des Tiers gerichtet. Er unterstützt die Katze, indem er ihre Gedanken und Beobachtung zu Papier bringt

Das Pathos des Primären trifft auf ein Ethos des Sekundären.

Die Verständigungsarbeit zwischen der Katze und dem Schmied geschieht aus dem Bedürfnis heraus, das verlorene Selbstverständnis wiederzufinden. Die Erinnerungsarbeit wird durch den Dialog geleistet, in dem das denkende Tier und die reflektierte Urahnin von Mina Murr sich an die Spielanleitung von E.T.A. Hoffmann erinnern. Den Herausgeber beeindruckt an dem deutschen Schriftsteller der Romantik, wie er mit artistischer Virtuosität auf den Zweifel an der Erzählbarkeit der Welt reagierte, ihn fasziniert die besondere „subjektive Art“, mit der er Wirklichkeit wahrnahm und dessen Fähigkeit, noch „das Gemeinste aus dem Alltagsleben“ fremdartig oder fantastisch erscheinen zu lassen; also auch eine sprechende Katze…

Am Beginn der literarischen Moderne wird die Selbstbezüglichkeit zu einem wesentlichen Merkmal.

Ein Rückblick in die Literaturgeschichte: Die »Lebens-Ansichten des Katers Murr« ist ein raffiniertes Beispiel romantischer Metaliteratur, diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre eigenen Bedingungen, Möglichkeiten, Eigenschaften, ihre Entstehungs- und Kommunikationsformen thematisiert. Der Murr-Roman ist sowohl Biographie als auch Autobiographie, bietet Anklänge eines Schauerroman und im Grunde ein Künstlerroman; die literarische Selbstinszenierung des Katers ist eine unfreiwillige Karikatur des Geniediskurses. Die Karikatur auf das Konzept des Genies verweist auf zwiespältige Perspektiven von Authentizität, Glaubwürdigkeit und Identität. Der »Kater Murr« lässt sich als weit entfernter Vorläufer des ´Autosoziobiografisches Schreibens` lesen… diese Lebensbeschreibung thematisiert sowohl die materiellen Rahmenbedingungen einer Aufzeichnung als auch die Materialität des Buchs, das auf der Basis der schriftstellerischen Arbeit entsteht. Im Gewand der Polyphonie erscheint das Mischwortwesen Félin Murr als die Urururgroßnichte von E.T.A. Hoffmanns Mina Murr; wie es in ihrer Familie üblich war, bildete sich Schmieds Katze autodidaktisch zum hommes de lettres aus. Sie nutzt dies zu zahlreichen Seitenhieben auf verschiedene kulturelle Strömungen und Erscheinungen im Sauerland. Was sich so und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie;-)

Schon bald werden die letzten Augenzeugen des alten Neheims gestorben… und die direkte, autobiographische Erinnerungsfähigkeit nicht mehr gegeben sein.

Das Anliegen dieser Online-Publikation liegt in der Abbildung der sauerländischen Gemeinde 5760 Neheim und in der gleichzeitigen Auffächerung und Darstellung der Problematik des Strukturwandel, der seit dem Ende der bäuerlich geprägten Gesellschaft anhält und diese Kleinstadt dazu verdammt immerfort zu werden und niemals zu sein. Martin Vanselow stellt seine Beschäftigung mit dieser Stadt nicht in einen leeren Raum, sondern verschafft dem Betrachter einen Überblick über den historischen wie gegenwärtigen Stand dieser Kleinstadt. Der Herausgeber würdigte den Fotographen Martin Vanselow, dessen Streetphotography er sehr schätzt. Er freut sich über die Zusammenarbeit für diese Online-Publikation weil Vanselow nicht nur faszinierende Bilder aus dem Alltag hervorholt, sondern weil diese Momentaufnahmen nebenher auch großartige Sozialstudien sind. Manchmal sagt „Ein Bild mehr als tausend Worte“. Dies bedeutet, dass ein Bild oft komplexere Ideen und Emotionen vermitteln kann als eine lange Textbeschreibung. Die visuelle Darstellung dieser Online-Publikation soll dazu beitragen, dass der Betrachter einen stärkeren Eindruck erhält und sich das Verständnis für den dargestellten Inhalt vertieft. 

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Lebens-Ansichten des Katers Murr ist ein satirischer Roman von E.T.A. Hoffmann. Die beiden Bände erschienen 1819 und 1821; in einer „Nachschrift“ wird ein dritter Band angekündigt, der jedoch nie erschienen ist. So besehen könnte man »Schmieds Katze« als dritten Band lesen;-)

Schmieds Katze, von Johannes Schmidt. Edition Das Labor 2025

Im Befragen dessen, was Heimat ausmacht, geht es um den Verlust lokaler Identität. 5760 Neheim ist ein affektiv besetzter Ort mit ehemals prägenden Wörtern, Dialekten, Berufsbezeichnungen, ihren Erhebungen und Abgründen, ihrem lokalen Wissen, ihren geheimen Geschichten und Überlieferungen. Die Vertellstückskers zeigen, wie ´Autosoziobiografisches Schreiben` im Hinterland betrieben wird. Im Land der 1000 Berge existieren Tiefenzeiten und Rückzugsräume. Es gibt im Sauerland noch Orte, in denen die Bürger jenseits des medialen Zerstreutseins zu Hause sind, in denen natürlichen Gegebenheiten und geschichtlichem Gewordensein sie mit anderen aufgehen können. Ähnlich wie bei Annie Ernaux steht auch für den Herausgeber Johannes Schmidt die Thematisierung von Klassismus in diesen Erzählungen im Vordergrund. Er verwandelt sich in einen Kehrichtsammler der Tatsachen, die Bagatellen des täglichen Provinzlebens werden in bizarre scheinenden und möglichst unterhaltsamen Geschichten festgehalten.