Verlassene Ortschaften

Wenn Sauerländer lässig erscheinen wollen, benutzen sie Worte wie Handy, wenn sie ihr Feldtelefon meinen, Beamer, wenn sie einen Projektor meinen oder Lost Places, wenn sie eigentlich auf Aufgegebene Liegenschaften hinweisen wollen.

Der Ausdruck „Lost Place“ ist ein Pseudoanglizismus, als solche werden in der Linguistik Wörter in der deutschen oder einer anderen Sprache bezeichnet, die lexikalische Elemente des Englischen benutzen und eine Wortneuschöpfung zu prägen, der im Englischen unbekannt ist oder nur in einer anderen Bedeutung verwendet wird. Eigentlich ist dies die Ortsbezeichnung einen für „vergessener Ort“. Der korrekte Ausdruck im Englischen lautet jedoch „abandoned premises“ (auf Hochdeutsch: „aufgegebene Liegenschaft“). Abgebildet werden dabei Bauwerke und Orte aller Art, die von Menschen erbaut und später aus den verschiedensten Gründen (z. B. Insolvenzen, Umweltkatastrophen, Bauruinen aus Geldmangel, Aufgabe wegen politischer Wechsel etc.) aufgegeben und verlassen wurden. Wir betrachten die Vergänglichkeit, die Rückeroberung der Natur und sind der Faszination des Morbiden ausgeliefert.

Die Ruinen-Fotografie, englisch als ruin porn bezeichnet, ist ein vergleichsweise junges Genre der Fotografie, das den Verfall von Bauwerken und ihre durch die Zeit erzeugte Nicht-Bedeutung, zum zentralen Thema macht.

Die Bezeichnung Aufgegebene Liegenschaft wird zwar häufig gleichbedeutend mit Ruinen aus der Industriegeschichte oder nicht mehr genutzten militärischen Anlagen gebraucht. Meistens handelt es sich um Bauwerke aus der jüngeren Geschichte, die entweder noch nicht historisch aufgearbeitet (bzw. erfasst) worden sind oder aufgrund ihrer geringen Bedeutung kein allgemeines Interesse finden und daher nicht als besonders erwähnenswert gelten. Die Fotografie von Martin Vanselow steht in Beziehung zur Architekturfotografie oder auch Landschaftsfotografie in vielen Fotos betrachte der Streetphotographer die Zivilisation in ihrer Auflösung. Ruinen-Fotografie beschäftigt sich auch mit Kulturspuren im weitesten Sinne.

„Es ist die Faszination von Orten, die nicht als Spektakel entworfen wurden.“

Guy Debord

Die eigentliche Bezeichnung Aufgegebene Liegenschaft gilt aber für jedweden Ort, der im Kontext seiner ursprünglichen Nutzung in Vergessenheit geraten ist. Insbesondere zählen dazu Orte, die nicht bewusst als Industriedenkmäler für die Nachwelt erhalten und dadurch wieder zugänglich gemacht werden. Die Faszination dieser Orte liegt in der Ursprünglichkeit und der fehlenden touristischen Erschließung, die dem Besucher die Möglichkeit bietet, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen und dabei Geschichte individuell und hautnah erleben zu können. Auf der anderen Seite birgt diese Eigenart der Plätze auch manchmal unterschätzte Gefahren. Des Weiteren ist das Betreten solcher Orte selten rechtlich eindeutig geregelt, weshalb Besucher von aufgegebenen Liegenschaften auch zuweilen lieber anonym agieren.

***

Weiterführend → Welche Möglichkeiten bieten Aufgegebene Liegenschaften?, fragt Martin Holz.

Der Kurator würdigte den Fotographen Martin Vanselow, dessen Streetphotography er sehr schätzt, auf KUNO. Er freut sich daher über die Zusammenarbeit für diese Online-Publikation, weil Vanselow nicht nur faszinierende Bilder aus dem Alltag hervorholt, sondern weil diese Momentaufnahmen nebenher auch großartige Sozialstudien sind.