Überzogener Machbarkeitswahn

Die Neheimer lieben ihre Stadt für das, was sie sein könnte und hassen sie für das, was die Stadtplaner seit 1982 aus ihr gemacht haben.

„Gibst du mir Steine, geb ich dir Sand. / Holst du mir Wasser, rühr ich den Kalk.“ (Wir bauen eine Stadt, Paul Hindemith)

Ursprünglich zielte der gründlich gutgemeinte Plan der Kommunalpolitker – euphemistisch in einer Hochglanzbröschüre als „Neheimer Sanierung“ betitelt – mit einem neuen Innenstadtkonzept darauf ab, Neheim als „Einkaufsstadt“ für die Zukunft zu stärken Besucherverluste zu vermeiden, indem es über den traditionellen Fokus auf Einkaufsmöglichkeiten hinausgehen sollte und die Multifunktionalität sowie die Aufenthaltsqualität in den Mittelpunkt stellte. Das Konzept, das einen Planungshorizont von 15-20 Jahren umfasste, sah vor, die Fußgeherzone und die bestehende Infrastruktur weiterzuentwickeln und neue Impulse für das Stadtleben zu setzen.

Laut Flächennutzungsplan (FNP) wurde die „Tunnellösung“ zu Beginn nicht für realisierbar gehalten

Das Konzept Fußgeherzone wurde vermehrt ab den 1970er Jahren umgesetzt, um Verkehr, Einkaufen und Wohnen räumlich zu trennen, aber auch eine Bündelung der Hauptverkehrsströme erreichen zu können. Fußgeherzonen sind seither ein Bestandteil der Stadtplanung, indem sie Fußverkehr vom motorisierten Individual- beziehungsweise öffentlichen Verkehr trennt und zusammen mit der Errichtung von Parkhäusern, Parkleitsystemen sowie auch im Tunnel geführten Bahnen (die Entwicklung der sogenannten ´Stadtbahn` fällt ebenfalls in diese Zeitperiode) die einzelnen Verkehre ordnen und qualitativ optimieren. Einkaufen soll in Fußgeherzonen gefördert werden, sie wurden zu einem Symbol prosperierenden Wirtschaftslebens und zum zentralen Ort des Massenkonsums. Insbesondere in mittleren und größeren Städten finden sich dort neben Fachgeschäften und anderen Betriebsformen des Einzelhandels auch große Kauf- und Warenhäuser. Der ursprüngliche Plan, Neheim in eine „Einkaufsstadt“ zu verwandeln, führt den Einwohnern im Lauf der Zeit deutlich vor Augen, wie unmenschliches Leistungsdenken und ein überzogener Machbarkeitswahn die letztmögliche Eskalationsstufe erreicht: Eine leere Mitte!

„Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, dass es zum Bild wird.“

Guy Debord

Die Natural Born Neheimer bleiben im ´Jetzt der Erkennbarkeit`, einem Moment der Wahrnehmung oder Erkenntnis, in dem etwas neu oder besonders deutlich wird. Es kann sich auf einen bestimmten Zeitpunkt beziehen, an dem etwas erkannt oder verstanden wird, oder auf einen Zustand, in dem besagte ´Erkennbarkeit` besonders stark ist. Daher schauen sie zuweilen entgeistert auf eine Stadt, die nicht mehr ihre eigene ist, dennoch stellt sie beste aller Welten für ein zurückgezogenes Leben dar. Heimatliebe ist im Sauerland etwas, was keiner Erwiderung bedarf, jeder ist diesem Lebensgefühl schutzlos ausgeliefert. Der mündige Bürger kann sich dem nur erwehren wenn er fortgeht.

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Schmieds Katze, von Johannes Schmidt. Edition Das Labor 2025

Im Befragen dessen, was Heimat ausmacht, geht es um den Verlust lokaler Identität. 5760 Neheim ist ein affektiv besetzter Ort mit ehemals prägenden Wörtern, Dialekten, Berufsbezeichnungen, ihren Erhebungen und Abgründen, ihrem lokalen Wissen, ihren geheimen Geschichten und Überlieferungen. Die Vertellstückskers zeigen, wie ´Autosoziobiografisches Schreiben` im Hinterland betrieben wird. Im Land der 1000 Berge existieren Tiefenzeiten und Rückzugsräume. Es gibt im Sauerland noch Orte, in denen die Bürger jenseits des medialen Zerstreutseins zu Hause sind, in denen natürlichen Gegebenheiten und geschichtlichem Gewordensein sie mit anderen aufgehen können. Ähnlich wie bei Annie Ernaux steht auch für den Herausgeber Johannes Schmidt die Thematisierung von Klassismus in diesen Erzählungen im Vordergrund. Er verwandelt sich in einen Kehrichtsammler der Tatsachen, die Bagatellen des täglichen Provinzlebens werden in bizarre scheinenden und möglichst unterhaltsamen Geschichten festgehalten.

Weiterführend → Der Herausgeber würdigte den Fotographen Martin Vanselow, dessen Streetphotography er sehr schätzt. Er freut sich über die Zusammenarbeit für diese Online-Publikation weil Vanselow nicht nur faszinierende Bilder aus dem Alltag hervorholt, sondern weil diese Momentaufnahmen nebenher auch großartige Sozialstudien sind.