Metamärchen

Falken sind tagaktive Jäger, stets auf der Suche nach dem Dingsymbol und dem nächsten Motiv.

„Erzähl doch kein Märchen!“, dieser Ausspruch wird von gern den Wahrscheinlichkeitskrämern verwendet, um die Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt einer Geschichte anzuzweifeln. Wer Märchen erzählt, wird nicht ernst genommen. Dies erstaunt umso mehr, weil seit Wilhelm und Jacob Grimm die Volksmärchen eine traditionelle Form des Geschichtenerzählens darstellen. Sie basieren auf mündlich überlieferten Stoffen und haben keine feste Textgestalt, die sich auf einen einzelnen Verfasser zurückführen ließe.

Analog zu den Volksmärchen nutzen Kunstmärchen auch Metaphern und greifen häufig auch Stil, Themen und Elemente von Volksmärchen auf, sind aber meist weder in ihrer Erzählform eindimensional, noch erschöpfen sie sich in stereotyper Abstraktion von Ort, Zeit und handelnden Personen, sie liefern oft zusätzlich detaillierte Beschreibungen von Personen und Ereignissen. Anders als in Volksmärchen werden die Figuren zuweilen gebrochen und deren Probleme psychologisiert, so dass sie auch innere Wandlungen vollziehen. Anstelle eines Schwarz-Weiß-Schemas, wie das von Gut und Böse samt eindeutiger moralischer Positionierung, werden in Kunstmärchen auch moralische Grauzonen abgehandelt; sie enden auch nicht immer glücklich.

Die meisten Autoren der deutschen Romantik schrieben Kunstmärchen, so Novalis im Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“, Friedrich de la Motte Fouqué „Undine“ oder E.T.A. Hoffmann, der das Oppositionsverhältnis zwischen poetischer Märchen- und prosaischer Alltagswirklichkeit in „Der goldne Topf“ thematisierte.

Die politisierten Dichter des Vormärz erfrischten die Gattung durch eine drastische Durchbrechung der Konvention des tröstlichen Endes oder der ausgleichenden Gerechtigkeit. Georg Büchners Antimärchen sind in seinen Dramen eingebunden. Am bekanntesten ist das Antimärchen aus Woyzeck, darin die Großmutter ihrer Enkelin das Märchen „Sterntaler“ mit schrecklichem Ausgang erzählt.

Die Literatur der Restaurationsepoche ist reich an Kunstmärchen. Viele von ihnen erreichten die Popularität von Volksmärchen, so im biedermeierlichen Deutschland Wilhelm Hauffs „Die Geschichte von Kalif Storch“ und Eduard Mörikes „Historie von der schönen Lau“. In Dänemark schrieb Hans Christian Andersen eine große Zahl von Kunstmärchen, die inzwischen zur Weltliteratur gehören, etwa „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in der Epoche der Neuromantik, entstanden in England die Märchendichtungen Oscar Wildes „Der glückliche Prinz und andere Märchen“. Erzählungen wie „Das Märchen der 672. Nacht“ von Hugo von Hofmannsthal führen die Gattung des Antimärchens fort und bereichern das Kunstmärchen durch eine metatextuelle Tendenz. Franz Kafkas „Die Verwandlung“, Alfred Döblins „Blaubart“ und Robert Musils „Die Portugiesin“ gehören der Gattung des Metamärchens an. Die Entwicklungslinie reicht bis zu den aufgeklärten Märchen von Peter Rühmkorf „Der Hüter des Misthaufens“.

Die scheinbare Ausblendung der äußeren Wirklichkeit im Metamärchens ermöglicht es, sozialkritische Inhalte zu transportieren.

Im Buch »Schmieds Katze«erkundet der Herausgeber als Kehrichtsammler von Tatsachen die modernen Legenden von „5760 Neheim“, einem Ort nirgends. Es sind eine Reihe von Metamärchen, neben den alten Fabeln über Wolf, Fuchs und Nymphe finden wir auch Motive der Science-Fiction (postmoderne Märchen!).

Erzählerin dieser Vertellstückskers ist eine, wie ein Mensch denkende und gebildete Katze, deren Reflexionen das Leben in diesem Paralleluniversum erläutert.

Gerade das Nichterzählte wirkt bei der Katze des Schmieds vertraut. Entstammt Félin, die Erzählerin dieser Vertellstückskers, der Überfamilie der Katzenartigen (Feloidea) oder ist sie verwandt mit dem Kater Murr oder gar mit Schrödingers Katze?

Demzufolge spielt die Handlung in einer Parallelwelt. Sie gleich unserer Wirklichkeit fast aufs Haar, doch Pigmentflecken und Falten in der Haut unterscheiden sich.

Was »Schmieds Katze« auch bei Lesern auszeichnen sollte, die nicht im Sauerland leben, ist der Detailrealismus, der die Lebenswelten des Sauerlands plastisch werden lässt, alle Sinne anspricht, und die reichhaltige, gleichmäßig strömende Sprache, durch die die geschilderte Wirklichkeit poetisiert wird. Die Realität wird nicht verklärt, sondern in der Schonungslosigkeit der Schilderungen manchmal an die Grenzen des Akzeptablen getrieben. Zuweilen steigt die Katze in den dunkelsten Sumpf der menschlichen Existenz, um ihn zu ergründen. Diese an einen „Äspohl“ (wird von ihr im Buch erklärt!) erinnernde Gemarkung markiert im Multiversum lediglich die Grenzen unserer Vorstellungskraft.

Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Gedankenexperiment um eine Feier der Intertextualität. Es ist überhaupt keine menschenzentrierte Beobachtungsliteratur mehr, dafür der Verweis auf die Eingebundenheit der Spezies Mensch ins Ökosystem. In Neheim leben aus der Zeit Gefallene, sie suchen Trost in den alten Erzählmustern, sehnen sich nach etwas Konstantem. Legenden sind ein stabiles Gebilde in enorm instabilen Zeiten. Mythen geben einerseits auf die Frage nach dem Ursprung und andererseits eine Antwort auf die Frage der Ethik.

In „5760 Neheim“ spiegelt sich auf glokaler Ebene ein Ungleichgewicht in der Beschreibung von Rezeptionslinien.

Es gibt im Sauerland keine sinnstiftende Erzählung für eine Gruppe oder Kultur, die einen konzisen Überblick liefert, hier existieren nurmehr Bedeutungssplitter, die versuchen, wenigstens einen prismatischen Moment einzufangen und Überlebtes, Überstandenes und scheinbar Überwundenes wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Es ist die scheinbar belanglose Alltäglichkeit, den Félin durch poetische Sprachbilder veredelt. Möglicherweise eignen sich diese Vertellstückskers zur Beantwortung einiger Fragen. Wahrscheinlich werfen sie auch neue auf. Ähnlich wie die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm ist der Herausgeber kein Märchenonkel, sondern ein unermüdlicher Sammler deutscher Worte, Neologismen und solcher, die aus dem nach Konrad Duden benannten Nachschlagwerk gefallen sind. Er verfährt mit Versatzstücken, Anspielungen und Zitaten, die an Samples eines Musikers erinnern, und folge damit der Spur der Katze. Der Stil ist von einem hypotaktisch gebauten Satzsystem geprägt, das von einem Rhythmus, einer unterlegten Musikalität durchzogen ist.

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Schmieds Katze wird am Welttag des Buches, am 23. April 2025, in der Stadtbibliothek Neheim vorgestellt. Wir hören eine Lesung aus den Buch – vorgetragen vom Schauspieler Kai Mönnich. Die Veranstaltung trägt den Titel „Heimat und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft“. An der Podiumsdiskussion wirken mit:

Jutta Ludwig, Leiterin der Stadtbibliothek

Johannes Sander, Literarische Gesellschaft Arnsberg

Johannes Schmidt, Herausgeber von „Schmieds Katze“

Cover: Haimo Hieronymus

Weiterführend → Das bekannteste Beispiel eines Dingsymbols stellt der Falke in der „Falkennovelle“ aus Giovanni Boccaccios Decamerone dar: Einem durch opulente, aber vergebliche Brautwerbung verarmten Ritter verbleibt als einzig wertvoller Besitz nur noch sein geliebter Jagdfalke. Als nach Jahren die einst Angebetete zum Essen erscheint, serviert er ihr das edle Tier ehrerbietig, da er nichts anderes mehr hat, das er ihr standesgemäß anbieten könnte. Die Dame war jedoch erschienen, um den Falken für ihren kranken Sohn zu erbitten, der ohne dieses Geschenk nicht genesen könne. Der Junge stirbt daraufhin, die Dame erbt sein Vermögen, das sie bisher nur verwaltete, und heiratet als reiche Frau den verarmten Ritter, der somit wider Erwarten doch noch zum Ziel seiner Wünsche gelangt. Der Falke wird am Wendepunkt der Handlung somit zum Symbol des zentralen Konflikts der Geschichte. Noch kein Metamärchen, jedoch der Beginn der Gattung Novelle.