
Unter dem Pflaster liegt in Neheim kein Strand, dies lässt sich bei der nach Schwester Aicharda benannten Straße zweifelsfrei feststellen. Die Stadtwerke verwandelten den Abschnitt zwischen Karlstraße und Schobbostraße von einem ruhigen Wohngebiet in eine Baustelle. Wo die Katze früher von der Amsel mit einem Ruf geweckt wurde, stimmt der Presslufthammer das harte Lied der körperlichen Arbeit an.
Unter dem Pflaster liegt kein Strand, vielmehr Kanalhausanschlüsse, das Wasserkanalnetz, sowie Gas- und Stromleitungen, die erneuert werden. Wahrnehmung und Wahrgenommenes sind verknüpft, daher wird auch ein Glasfaserkabel im Verlauf des nicht aufzuhaltenden Fortschritts verlegt.
Unter dem Pflaster liegt kein Strand, lediglich ein Versprechen auf eine bessere Zukunft… um nicht vollends von der westlichen Zivilisation abgekoppelt zu werden, beginnt die Erneuerung des Abwasserkanals, dabei werden bei Tiefenbohrungen die bisherigen Bewohner des Untergrunds, die Ratten, verscheucht… sie suchen eilends in den Kellern der anliegenden Häuser nach einer neuen Unterkunft.
Unter dem Pflaster liegt kein Strand, es finden sich dort historische Pflastersteine, die ganz hervorragend zur Disneyfizierung der nahe gelegenen Verwaltungsstadt des Regierungsbezirks passen. Der Untergrund wird mit Schotter aus einem Steinbruch bei Herdringen glattgezogen, danach werden die Kanalhausanschlüsse vom Hauptkanal bis zur Grundstücksgrenze erneuert. Anschließend werden die Trinkwasserleitung der Stadtwerke sowie Gas- und Stromleitungen neu verlegt. Schließlich werden Gehwege, Parkstreifen, Baumstandorte, Straßenbeleuchtung und die Fahrbahn schrittweise erneuert.
Unter dem Pflaster liegt kein Strand, daher können hier auch keine Palmen in den Boden gerammt werden. Ergänzt wird die Wohnumfeldverbesserung durch ein „Straßenbegleitgrün“, wie in der Stadtplanung die beigestellten Bäume gekennzeichnet werden. Die Stadtplaner haben solche Gewächse vorgesehen, die weder Vögeln noch anderen Kleintieren etwas Nahrhaftes zu bieten haben. Und die zufälligerweise zum gleichen Zeitpunkt im Herbst das Blattwerk abwerfen, so als wären sie von den Stadtwerken programmiert worden.
Unter dem Pflaster liegt kein Keim für einen Grünstreifen. Dabei könnten Buschwerk, Gräser und Blütenstauden zur Abkühlung in der Stadt mit beitragen. Zwar wird das Bankett, aus Gründen der Verkehrssicherheit gemäht, doch dahinter bleibt das Grün meist ungedüngt. Hochwachsende Gräser, durchsetzt mit Sauerampfer, Wiesensalbei, Margeriten und Kuckucks-Lichtnelken mit ihrer roten, blauen, weißgelben und rosa Blütenpracht, ergeben eine reich gedeckte Tafel für Insekten aller Art, die wiederum Vögel und Fledermäuse anlocken. Als die Katze die vorgestanzten Betonabdeckungen betrachtet, die um die Bäume eingelassen werden, wachsen bei ihr Zweifel.
„Unser Dorf soll schöner werden“, lautete das Motto eines Wettbewerbs auf Bundesebene. Félin will den Stadtplanern nicht gänzlich absprechen, dass es ihnen um Daseinsvorsorge und Lebensqualität geht. Eine Gemeinde sollte dem Komfort in der Großstadt in nichts nachstehen und eine Abwanderung in urbane Alptraumräume verhindern.
Unter dem Pflaster liegt ´Sternenstaub`… Félin kehrt vor der eigenen Tür und unterzieht die Ortschaft einer mentalitätshistorischen Überprüfung. Bei der Umformung des Viertels fragt sie sich: „Ist es das retrofuturistische Ziel, in Neheim eine brutalistische Variante des DDR-Plattenbaus zu erschaffen?“
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Schmieds Katze, von Johannes Schmidt. Edition Das Labor 2025

Im Befragen dessen, was das Heimatliche ausmacht, geht es um den Verlust der lokalen Identität. Das Sauerland ist ein affektiv besetzter Ort mit ehemals prägenden Wörtern, Dialekten, Berufsbezeichnungen, ihren Erhebungen und Abgründen, ihrem lokalen Wissen, ihren geheimen Geschichten und Überlieferungen. Diese Vertellstückskers zeigen, wie ´Autosoziobiografische Schreiben` im Hinterland betrieben wird. Im Land der 1000 Berge existieren Tiefenzeiten und Rückzugsräume. Es gibt im Sauerland noch Orte, in denen die Bürger jenseits des medialen Zerstreutseins zu Hause sind, in denen natürlichem Gegebenheiten und geschichtlichem Gewordensein sie mit anderen aufgehen können. Ähnlich wie bei Annie Ernaux steht auch für den Herausgeber Johannes Schmidt die Thematisierung von Klassismus in diesen Erzählungen im Vordergrund. Er verwandelt sich in einen Kehrichtsammler der Tatsachen, die vermeintlichen Kleinigkeiten des täglichen Provinzlebens werden in bizarre scheinenden und möglichst unterhaltsamen Geschichten festgehalten.
→ Der Herausgeber würdigte den Fotographen Martin Vanselow, dessen Streetphotography er sehr schätzt, auf KUNO. Er freut sich daher sehr auf die Zusammenarbeit für diese Online-Publikation weil Vanselow nicht nur faszinierende Bilder aus dem Alltag hervorholt, sondern weil diese Momentaufnahmen nebenher auch großartige Sozialstudien sind.