„Ich öffne Türen und komm nicht hinein
Ich seh durch ein Fenster und kann nichts erkennen
Keine Konturen, das Bild war ein Schatten
Der Schatten ein Traum, das Licht Illusion“
Peter Hein, Fehlfarben

Damit etwas Wesentliches in die Erinnerung zurückkehrt, muss zuweilen erst das ungenannt Andere in Vergessenheit geraten. Das Spiel mit Fiktion und Wahrheit und der Trug von Erzählungen, denen man kritiklos erliegt, sind seit ehedem das Grundkonstrukt der Literatur.
Seit dem Einsatz von KI stellen sich neue Fragen:
Wer darf noch Geschichten erzählen? – Was traut man einem unzuverlässigen Erzählen zu? – Welcher Medienkonzern hat die Kontrolle über das „Narrativ“?
Spätestens seit dem – in den 1960-er Jahren von St. Magnus verkündeten – „Tod der Literatur“ ist der Ort der Dichtkunst nicht mehr ihre Quelle, sondern nurmehr das Lesen selbst. Diesen Tod betrachtete er als eine Metapher; damals wie heute erschröckt die ´Teutsche Intelligenzija` allenfalls konzeptionell. Dies scheint nach 50 Jahren als eine sehr grobe Verkürzung. Was aber gesagt werden sollte, bestimmte Teile der Literatur sehen in der Nachbetrachtung alt aus, bereits weit vor der Zeit gealtert. Neue Texte werden inzwischen aus dem Fundus zusammengesetzt, was die Programmierer der KI eingespeist haben, z.B. diese Lyrics: „Das sind Geschichten, in Büchern gelesen
Geschichten aus dem täglichen Sterben / Geschichten die mir keiner glaubt / Das sind Geschichten und sie sind geklaut“, wusste bereits Peter Hein.
´Mnemosyne` ist eine Gestalt der griechischen Mythologie sowie ein Fluss in der Unterwelt, dessen Wasser im Gegensatz zur Lethe nicht das Vergessen, sondern die Erinnerung herbeiführte.
Es ist nicht an der Zeit gegenüber gegenwärtigen Tendenzen und zukünftigen Entwicklungen in einen zynischen Kulturpessimismus zu verfallen. Wie bestens ausgestattete Bibliotheken bezeugen, ist der Tod der Literatur noch nicht eingetreten. Zwischen dem Gilgamesch-Epos und den Lyrics von Peter Hein hat sich derweil so viel Poesie angesammelt, um für die Lesenden (und selbstverständlich die Hörenden!) gleich für mehrere Leben zu füllen.
Erinnerungen dienen als Sprungbrett in die Zukunft.
Das multiple Schreiben wird entwirrt, die Einheit des Textes entsteht nicht mehr durch einen auktorialen Erzähler. Das autosoziobiographische Erzählen ist nicht auf die Person zentriert, die ihn verfasst hat. Dieses Schreiben ist der Raum, in dem die tyrannische Figur des Genies verschwindet; nicht mehr der Autor, sondern die Sprache spricht. Das Schreiben ist somit dort positioniert, wo es hingehört, in der Sprache selbst. Das multiple Schreiben entsteht nicht mehr durch einen Doctor Allwissend, sondern durch die Verknüpfungskompetenz der Lesenden.
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Monarchie und Alltag, Fehlfarben, 1981

Weiterführend → Früher als Peter Glaser hat kaum jemand die Bedeutung von Peter Hein erkannt. Lesen Sie auch seinen Essay Attrappe einer Kulturgeschichte von neulich. Zu Monarchie und Alltag gibt es einen Bericht zur Lage der Detonation. Zu Ran! Ran! Ran! – THE BEST OF FAMILY*5 / VOL. I, zusammengestellt von Xao Seffcheque.
→ Im typischen Gestus junger Dichter hasste Arthur Rimbaud die kleinbürgerliche Enge seiner Vaterstadt, was z. B. in dem satirischen Gedicht À la musique (An die Musik) zum Ausdruck kommt, er ist der erste Rockstar der Poesie. Dichter wie der Dub-Poet Linton Kwesi Johnson, der Punk-Poet John Cooper Clarke, der Lo-Fi-Poet Dan Treacy, der Spät-Expressionist Peter Hein, der Lizard-King Jim Morrison und die Grandma des Punk Patti Smith nutzten Musik als Transportmittel für ihre Lyrics. Und eigentlich könnte auch: „Dylan gut ohne den Nobelpreis für Literatur weiterleben und -arbeiten. Er ist auch kein genuiner Kandidat, insofern er halt kein ‚richtiger‘ Schriftsteller ist, sondern ein Singer-Songwriter.“ (Heinrich Detering).