Der Totenberg

Am Tag der Kommunalwahlen finde ich den Schmied kreidebleich am Küchentisch: „Der Wahlbezirk, in dem ich meine Stimme abzugeben habe heißt: Totenberg.“

Golgota, von Mihály von Munkácsy, Öl auf Leinwand, 1884

Im finsteren Mittelalter war man auch im Sauerland sehr vielseitig, wenn es daran ging, Menschen zu exekutieren. Zwar behielt man das Kreuzigen wegen des Glaubens an den gekreuzigten Jesus Christus nicht bei, sondern erfand dafür viele neue Methoden: Hexen wurden verbrannt. Verbrecher gerädert. Wiederum andere erhängt. Die Brutalität historischer Hinrichtungsarten zeigt deutlich, dass man diese Verurteilten nicht nur töten wollte, sondern darauf abzielte, ihnen zusätzliches Leid durch Folter zuzufügen.

Eine Hinrichtung ist die vorsätzliche Tötung eines in der Gewalt der Hinrichtenden befindlichen gefangenen Menschen, meist als Vollzug einer von der Justiz eines Landes ausgesprochenen Verurteilung zur Todesstrafe.

Das Golgatha von Neheim hatte einen treffenden Namen: Totenberg. Im Land der 1000 Berge trug dieser Ort seinen Namen aufgrund seiner Funktion als Richtplatz, an dem Menschen exekutiert wurden. Auf dem Gelände befand sich auch ein Friedhof wo man die erhängten, geräderten oder verbrannten Menschen in ungeweihter Erde verscharrt hat.

In Ermangelung von Reality TV, sollte dies einerseits abschrecken, andererseits zur Unterhaltung der Bevölkerung beitragen.

Noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts waren am Hilgenhals, dem Standort der Hinrichtungsstätte auf dem Totenberg, noch sichtbare Überreste des Galgens vorhanden. Heute erinnert dort ein Kreuz an die alte Hinrichtungsstätte. Die Tafel unter dem Korpus trägt die Inschrift:

„Trag gern Dein Kreuz, so trägt es Dich zur schönen Heimat sicherlich, doch murrest Du, dann drückt es sehr und weichet Dir nimmermehr. Wirfst Du es ab, so glaube mir, ein neues, schweres nahet Dir.“

Bei der Wallfahrt Neheim-Werl wurde dieses Kreuz immer von der Jugend des oberen Totenberges in Ordnung gebracht und geschmückt.

Auch mit der Demokratie ist es nicht nur metaphorisch ein Kreuz, besonders dann, wenn es nicht gemacht wird. In den Kommunen ist sie die beste aller schlechten Regierungsformen. Der Unterschied zur Makroebene ist, auf der Meseoebene sehen die Stimmbürger, was sie verändern können. Auf kommunaler Ebene braucht vor allem den Mut und die Einsicht von allen Wahlberechtigten, die Dinge verändern zu können. Dies ist schließlich auch dem Schmied klargeworden, nachdem ich ihm mit vorgehaltenem Grundgesetz überzeugen konnte, trotz der Furcht seiner bürgerliche Pflicht nachzugehen.

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Schmieds Katze, von Johannes Schmidt. Edition Das Labor 2025

Im Befragen dessen, was Heimat ausmacht, geht es um den Verlust lokaler Identität. 5760 Neheim ist ein affektiv besetzter Ort mit ehemals prägenden Wörtern, Dialekten, Berufsbezeichnungen, ihren Erhebungen und Abgründen, ihrem lokalen Wissen, ihren geheimen Geschichten und Überlieferungen. Die Vertellstückskers zeigen, wie ´Autosoziobiografisches Schreiben` im Hinterland betrieben wird. Im Land der 1000 Berge existieren Tiefenzeiten und Rückzugsräume. Es gibt im Sauerland noch Orte, in denen die Bürger jenseits des medialen Zerstreutseins zu Hause sind, in denen natürlichen Gegebenheiten und geschichtlichem Gewordensein sie mit anderen aufgehen können. Ähnlich wie bei Annie Ernaux steht auch für den Herausgeber Johannes Schmidt die Thematisierung von Klassismus in diesen Erzählungen im Vordergrund. Er verwandelt sich in einen Kehrichtsammler der Tatsachen, die Bagatellen des täglichen Provinzlebens werden in bizarre scheinenden und möglichst unterhaltsamen Geschichten festgehalten.

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