Vorbemerkung: Seit dem Jahr 2000 wird jedes Jahr am 21. März der Welttag der Poesie gefeiert. Er soll an „die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern“. Félin Murr stellt zu diesem Anlass einige Überlegungen zur Lesbarmachung des Oeuvres ´Autosoziobiografisches Erzählen` an.

„Bei einer autosoziobiografischen Schreibweise drängt sich diese Reflexionsebene auf. Man versucht, Dinge im Sozialen zu erkennen und einzuordnen. Da muss man zwangsläufig mal einen Schritt zurücktreten.“
Marco Ott
Eine abwegige Spurensuche mit ungewissem Ausgang. Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, der Etablierung des Internet und der Kommerzialisierung des www entstand zugleich die Illusion vom „Ende der Geschichte“. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama vertrat die These, dass sich nach dem Zusammenbruch der UDSSR und der von ihr abhängigen sozialistischen Satellitenstaaten die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall durchsetzen würden. Er schrieb im Jahr 2008:
„Der einzige wirkliche Konkurrent der Demokratie in der Welt der Ideen ist heute der radikale Islamismus. Einer der gefährlichsten Nationalstaaten der Welt ist heute der Iran, der von extremistischen schiitischen Mullahs regiert wird.“
Diese Erkenntnis setzte sich bei Fukuyama sieben Jahre nach 9/11 durch, als Mitglieder des islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida mehrere zivile Flugzeuge entführten und sie u.a. in das Pentagon einrammten und in die Zwillingstürme des World Trade Centers stürzen ließen.
„Wir betrachten nicht das „Ende der Geschichte“, sondern das Ende des Geschichten-Erzählens oder neumodisch gefragt:
„Wer verfügt über das ´Narrativ`?“
Im Unterschichtenfernsehen bezeichnete zu dieser Zeit der arrogante Clown Harald Schmid in zynischer Manier gesellschaftlich benachteiligte Menschen als „bildungsferne Schichten“, womit der Talkmaster keine Neuigkeit verkündete, sondern mit seinem Standesdünkel lediglich eine einschlägige soziologische These in seiner Talk-Show referierte. Leute wie dieser astronomisch gut bezahlte TV-Hofnarr tragen zu Abwertung des Herkunftmillieus bei, das im Weltnetz seinen eigentlichen Ausdruck erhielt. Hatte Bertolt Brecht in seiner Radiotheorie einst gefordert, das sich „der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln“ sollte, müsste nun eigentlich eine Abrechnung mit medialen Wirklichkeit geschehen. Wie in der Radiotheorie gefordert, tritt in einem anderem Medium, dem Internet, jeder aus einer einseitigen Rezipienten-Rolle heraus und wird zum Sender von Botschaften. Nach der anfänglichen Euphorie zeigt sich ein deprimierendes Resultat. Die vielbeschworene Weisheit der Massen führte zu den multiplen Wahrheiten des Weltnetzes. Jeder schafft sich in diesem Medium seine eigene Wahrheit. Dies führt zur Konsequenz, dass dem Nutzer unüberschaubar viele Wahrheiten feilgeboten werden, die kaum mehr überprüfbar sind, ein Fest für Verschwörungstheoretiker.
Es braucht keine Berufskleidung mehr, wie den Blaumann, den Arztkittel oder den Hosenanzug für Politikerinnen.
Spannend wird es, wenn Literatur und Wissenschaft in einen Dialog treten. So bezeichnet etwa Klassismus die Diskriminierung von Menschen aufgrund von sozialer Herkunft. Auch ein Essay handelt ausschließlich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Als systematisch-kritische Wissenschaft des Sozialen geht die Soziologie (von lateinisch socius ‚Gefährte‘ und -logie) aus dem Zeitalter der Aufklärung hervor und nimmt als Sozialwissenschaft eine Mittelstellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ein. Ihren Namen erhielt sie von Auguste Comte, bevor sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin durchsetzte. Dem folgt die autosoziobiografische Schreibweise, in dem sie die Bedingungen des Schreibens reflektiert, sowie die Qualitäten von Schrift, als eine unabdingbare Bedingung der Möglichkeit der beschriebenen Realität. Linearität und Stillstand, Zeit und Raum, Natur und Kunst, Weltflucht und zivilisationskritisches Engagement durchdringen und überlagern sich. Die geschriebene Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nicht identisch mit der Realität, ganz im Gegenteil, sie produzieren ein unentwegtes Weiter-Schreiben durch die der Erinnerung. Er wird sich unter der Arbeit erweisen, ob die komplexe Verschachtelung zu einer sprachlichen Synthese gelangen kann. Es ist erfrischend, sich nicht mehr mit literarische Konstruktionen des Ich beschäftigen zu müssen sowie Schichten und Brüche in der Ich-Identität zu einem Fetisch zu machen. Nun steht das Ausgeliefertsein an übergeordnete Instanzen im Fokus. Wer im 21. Jahrhundert über die weiterhin vorhandene „Klassengesellschaft“ schreibt, denkt in größeren strukturellen Kontexten und stellt sich Dingen, die schwieriger zu erklären sind, als uns die Nazis 2.0 in Deutschen Parlamenten glaubhaft machen wollen
Wie greift der Klassismus auf die glokale Ebene über?
Die umständlich aufgerollte Makroebene spiegelt sich auf der Mesoebene in einer kleinen Gemeinde im Hochsauerlandkreis. Der Fokus liegt in dieser Kommune auf der Betrachtung von Gruppen als Akteuren und nicht wie auf der Mikroebene auf Einzelpersonen. Dafür muss man sich kein ´Narrativ` aus dem Kreuz leiern. Es sollte reichen, wenn sich der Herausgeber die Methoden der Brüder Grimm zu eigen macht, dafür sammelte der Verfasser dieser Zeilen die modernen Legenden von „5760 Neheim“, einem Ort nirgends. Neben den alten Fabeln über Wolf, Fuchs und Nymphe finden wir in Schmieds Katze auch Motive der Science-Fiction. Erzählerin dieser Vertellstückskers ist eine, wie ein Mensch denkende und gebildete Katze, deren Reflexionen das Leben in diesem Paralleluniversum erläutert.
Folgt man der Logik dieser Versuchsanordnung, so spielt die Handlung in einer Parallelwelt.
„Keiner weiss mehr“ und niemand kann im 21. Jahrhundert eine völlig fiktionale Geschichte erfinden, die auf absolut imaginären Fakten beruht, die sich in einem Staat ereignet haben, den es nicht gibt. Durch das Einfügen und Erweitern des Referenztextes entsteht also eine Fiktion zweiter Ordnung, das autosoziobiographische Erzählen wieder zu einem Versuchslabor, in dem Textelemente neu zusammengeführt werden. Die autosoziobiografische Schreibweise gleicht der Wirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhundert fast aufs Haar, doch Pigmentflecken und Falten in der Haut unterscheiden sich. Was Schmidts Katze auszeichnen sollte, ist der Detailrealismus, der die Lebenswelten des Sauerlands plastisch werden lässt, alle Sinne anspricht, und die reichhaltige, gleichmäßig strömende Sprache, durch die die geschilderte Wirklichkeit poetisiert wird. Die Realität wird nicht verklärt, sondern in der Schonungslosigkeit der Schilderungen vom Herausgeber manchmal an die Grenzen des Akzeptablen getrieben. Zuweilen steigt die Katze in den dunkelsten Sumpf der menschlichen Existenz, um ihn zu ergründen. Diese an einen „Äspohl“ erinnernde Gemarkung markiert im Multiversum lediglich die Grenzen unserer Vorstellungskraft.
Gerade das Nichterzählte wirkt vertraut. So entstamme ich, die Erzählerin dieser Vertellstückskers, der Überfamilie der Katzenartigen (Feloidea) und bin die Urururgroßnichte von Mina Murr, verwandt mit Schrödingers Katze?
Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Gedankenexperiment um eine Feier der Intertextualität. Nicht nur die Notenschrift des Textes wird zum Klingen gebracht, zugleich wird auch das Schweigen zwischen den Zeile hörbar. Wie bei Walter Benjamin geht es um die „Liquidierung des epischen Elements“. Erinnerung, geschichtliche wie literarische, versteht der Autor der „Einbahnstraße“ als Absage an geschlossene, sowie kontinuierliche Repräsentation. Das Gedanken kann demzufolge nur im Modus einer subjektiven Unerzählbarkeit bewahrt werden. Eine solche Theorie des erinnernden Erzählens wäre demnach das Kenntlich-Machen eines Zerfalls. Dieses erinnernde Fortleben liegt auch den Vertellstückskers zugrunde. Dies ist keine menschenzentrierte Beobachtungsliteratur, vielmehr ein diskreter Verweis auf die Eingebundenheit der Spezies Mensch ins Ökosystem. In „5760 Neheim“ leben aus der Zeit Gefallene, sie suchen Trost in den alten Legenden, sehnen sich nach etwas Konstantem. Diese Legenden erscheinen ihnen als stabiles Gebilde in enorm instabilen Zeiten. Erinnert wird hier kein tradiertes Wissen mehr, sondern nurmehr die Struktur einer Tradierbarkeit, die unabhängig von aller Inhaltlichkeit den kommunikativen Rahmen für Austausch und Überlieferung vorsieht. Mythen geben einerseits auf die Frage nach dem Ursprung und andererseits eine Antwort auf die Frage der Ethik.
In „5760 Neheim“ spiegelt sich auf glokaler Ebene ein Ungleichgewicht in der Beschreibung von Rezeptionslinien.
Suchen und Werden bestimmen in Neheim das Sein. Daher könnte es für den ausserordentlicher Erkenntnisgewinn ratsam sein, aus dem Begriffspaar Identität und Differenz ein kategoriales Instrumentarium zu entwickeln. Die Fragen von Repräsentation, Identität und Marginalisierung im Sauerland stellen und die Diversität der Selbstbilder erkunden. Das Neue ist nur das nachträglich Gesäuerte. Das später Gesagte hängt auch im hintersten Hinterland vom früher Besprochenen ab. Die Neheimer erzählen nach, wenn nicht einen Text, dann das Leben, wenn nicht das Leben, dann die Realität, auch wenn es die Wirklichkeit, wie wir seit dem in 1999 gezeigten Film Matrix, nicht mehr gibt. Durch das Einfügen und Erweitern des Referenztextes entsteht auch ausserhalb des Kinos eine Fiktion zweiter Ordnung, das autosoziobiographische Erzählen wieder zu einem Versuchslabor, in dem Textelemente neu zusammengeführt werden. Es gibt im Sauerland keine sinnstiftende Erzählung, welche einen konzisen Überblick liefert, hier existieren nurmehr Splitter, die versuchen, wenigstens einen Moment einzufangen und Überlebtes, Überstandenes und scheinbar Überwundenes wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Möglicherweise eignen sich diese Vertellstückskers zur Beantwortung einiger Fragen.
Satzfragmente kümmern sich nicht darum, ob sie Haupt- oder Nebensätze sind und wovon sie überhaupt abhängen. Legenden sind der Versuch die Lebenswirklichkeit des Sauerlands in Worte zu fassen.
Nach einer Hintergrundrecherche sind in der autosoziobiogafischen Literatur persönliche Geschichten dazu in der Lage, Geschichte zu konservieren, herzustellen, zu interpretieren und Subjektpositionen im Schnittpunkt von Privatem und Öffentlichem auszumachen. Im Internet verschärfen sich die Probleme der individuellen wie gesellschaftlichen Identitätssuche. Die Sinnstiftung in einer von mentalen Vorstellungs- und medialen Wahrnehmungsbildern massiv durchsetzen Realität, sind von Formierungszwängen geprägt. Der Herausgeber konfrontiert in seinen Miszellen zwei einander entgegenlaufende Sichtweisen, die des protokollarischen Erzählens, worin ein Fakt erkennbar wird, und die minutiöse, Bruchteile von Sekunden dehnende exakte Wahrnehmung, die zugleich Gedanken der Illusion unterstellt, obschon sie die eine präzise Realität ist. Das Selbst kann sich im Sauerland nur in der Konstruktion eines Anderen konstituieren. Die Weltsicht des Sauerländers und das Bild auf das Land der 1000 Berge rezipiert, variiert und negiert in endlosen Transformationen, womit sich in die Tradition der Heimatliteratur ein neuer Ton eingeschrieben hat. An die Stelle der Einheit von Signifikat und Signifikant tritt die Differenz als zentrale Kategorie. Sie zu veranschaulichen und zu reflektieren heißt, die Regeln der diskursiven, zumal medial imprägnierten Formierung transparent zu machen.
Es ist die scheinbar belanglose Alltäglichkeit, die sich in poetische Sprachbilder veredelt lassen.
Ähnlich wie die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm ist der Herausgeber kein Märchenonkel, sondern ein unermüdlicher Sammler deutscher Worte, Neologismen und solcher, die aus dem nach Konrad Duden benannten Nachschlagwerk gefallen sind. In der Lebenswirklichkeit des Sauerlands gibt es nur eine verlässliche Möglichkeit, man muss sich die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus vergegenwärtigen, Schule, Familie, die sauerländische Provinz, in denen die Bewohner gefangen sind – und die, ohne dass ihnen ihre Widersprüche bewusst sind, ihr Leben beherrschen. Analog zu Annie Ernaux steht auch für mich die Thematisierung von Klassismus in diesem Buch im Vordergrund. Er verwandelt sich in einen Kehrichtsammler der Tatsachen, die vermeintlichen Kleinigkeiten des täglichen Provinzlebens werden in bizarre scheinenden und möglichst unterhaltsamen Geschichten festgehalten. Die autosoziobiografische Schreibweise stellt nicht das ICH in den Vordergrund, sondern verfährt mit Versatzstücken, Anspielungen und Zitaten, die an Samples eines Musikers erinnern. Die Lesenden folgen damit der Spur der Katze.
Mein Stil ist von einem hypotaktisch gebauten Satzsystem geprägt, das von einem Rhythmus, einer unterlegten Musikalität durchzogen ist.
Jede Sinnsetzung seziert. Der Herausgeber spürt den Ambivalenzen der Moderne in Neheim nach und plädiert dafür, die Differenz von Institution und Individuum im Auge zu behalten. Er hält den Sauerländern mit diesem Buch nicht den Spiegel vor, ihnen steht es frei sich in diesen Realitätssplittern wiederzuerkennen oder „dat Ganze für erstunken und erlogen“ zu halten. Die autosoziobiografische Schreibweise eröffnet dem Leser dieser Vertellstückskers einen Blick auf soziale Existenzen, dem Klassismus und Milieus mit hohem Wiedererkennungswert. Konkrete Details werden vom Kehrichtsammler der Tatsachen bewusst eingesetzt, um die Atmosphäre der vergangenen Zeit zu beschwören und gleichzeitig die Distanz zum Heute erfahrbar zu machen. Das Sauerland ist die Terra incognita der Bonner Republik, diese Vertellstückskers sind der Versuch, das Vakuum des Schweigens mit der Hilfe von Imagination zu füllen. Indem hier unterschiedlichen Stimmen zu Wort kommen, mag es vielleicht nach dem Verlust eines eigenen Dialekts gelingen, das Mensch-Sein zur Sprache zu bringen.
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Schmieds Katze, von Johannes Schmidt. Edition Das Labor 2025

Weiterführend → Essays lebten von einer Verknüpfungskompetenz, die das Ganze des kulturellen Lebens überblicken.
→ Die Essais von Michel de Montaigne sind ein „literarischer Versuch“. Er wäre somit ein analoger Blogger aus dem 16. Jahrhundert.
→ Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommentierung der Weltlage zur Dauerbeschäftigung erhob. Seine Zeitschrift „Die Fackel“ war gewissermaßen der erste analoge Kultur-Blog.
→ Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft
→ In 2003 stellte das Online-Magazin KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.
→ In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.
→ In 2023 machte sich Holger Benkel gedanken über das denken.
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