Im Dezember 1812 erschien in Berlin der erste Band der von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten Kinder- und Hausmärchen im Oktavformat (475 Seiten, es kostete einen Taler und achtzehn Groschen). Das Buch bestand aus 86 Geschichten, darunter Schwank- und Tiermärchen – auf die legten die Brüder beim Sammeln einen besonderen Wert -, sowie jede Menge Zaubermärchen.

Die von Clemens Brentano angeregte Sammlung ist von daher bemerkenswert, weil es sich um eine frühe Art von Schwarmintelligenz handelt. Jacob und Wilhelm Grimm führten die Sammlung von Brentano in eigener Regie weiter, wobei sie Notizen zu Gewährspersonen und Aufnahmedaten nun genauer führten. Die Geschwister Hassenpflug und Wild waren weiterhin die ergiebigsten Quellen. Dem Bild hessischer Volksüberlieferung am nächsten kommt wohl der pensionierte Dragonerwachtmeister Johann Friedrich Krause als ältester Beiträger überhaupt. Nun war es Brentanos Freund Achim von Arnim, der die Brüder Grimm auf weitere Texte hinwies, u.a. Die Sterntaler, und sie 1812 zur Publikation animierte. Das Buch sollte preiswert sein und zur Mitarbeit anregen. So wurde auch fragmentarisches Material abgedruckt mit Anmerkungen direkt unter den Texten. Die ersten Exemplare erschienen am 20. Dezember 1812, der größte Teil im März 1813 in einer Auflage von 900 Stück bei Verleger Georg Andreas Reimer in Berlin. Es war zu Verzögerungen gekommen, da der Text von Der Fuchs und die Gänse verloren gegangen war.
Die Brüder Grimm schufen die erste wissenschaftliche Dokumentation mündlich überlieferter europäischer Märchentraditionen.
Der Druck des zweiten Teils 1814 verlief unkomplizierter. Wilhelm Grimm entdeckte als Quellen die westfälischen Adelsfamilien von Haxthausen und von Droste Hülshoff. Da diese ihre Märchen letztlich von Mägden, Bauern, Schäfern, u. A. übernahmen, gelang ihm tatsächlich der Zugriff auf eigentliches Volksgut, das gleichwohl durchwegs den intellektuellen Filter belesener Frauen des Bürgertums durchlief. Der Erzähler getraute sich nicht alles zu erzählen, die Aufzeichnerinnen gaben nicht jede Geschichte weiter, und die Brüder Grimm wählten wiederum aus und überarbeiteten. Heinz Rölleke bemerkt: Für fragmentarische, in sich widersprüchliche, oft auch zotenhafte Aufzeichnungen hätte sich seinerzeit weder ein Verleger noch das Lesepublikum interessiert. Insbesondere enthielt der zweite Band nun Beiträge der ab Mai 1813 neugewonnenen Erzählerin Dorothea Viehmann, die auch einige des ersten Teils ersetzten. Ihre Kontakte als Wirtstochter und ihr Erzähltalent machten sie zum Idealbild einer Märchenfrau, deren Texte auch zur Vervollständigung anderer verwendet wurden und dem Anmerkungsteil als Vergleichsfassungen dienten. Sie erzählte bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Übung nachschreiben kann (Wilhelm Grimm). Ihre Texte wurden auch für spätere Auflagen kaum verändert. Der Verkauf, vor allem des zweiten Bandes, verlief schleppend, weshalb es zu Unstimmigkeiten zwischen den Grimms und ihrem Verleger Reimer kam. 1819 kam eine zweite Auflage beider Bände heraus, die als die wichtigste in der Editionsgeschichte angesehen wird. Eine Vielzahl von Texten wurde darin neu aufgenommen, darunter einige, die heute zum Grundbestand der KHM zählen (Die Bremer Stadtmusikanten, Hans im Glück, Tischlein deck dich), zahlreiche Texte der ersten Auflage wurden grundlegend bearbeitet. Die Grimms reagierten so auf Kritik von Freunden und Rezensenten.
Märchen sind essenziell für die Kreativität und die Vorstellungskraft, auch in unserer digitalisierten Welt.
Die Kinder- und Hausmärchen erschienen schon zu Lebzeiten der Brüder Grimm in rund zehn, teils stark veränderten Auflagen. Daß Wilhelm Grimm an seinem literarischen Schreibstil feilte und ihn zu einzigartiger Perfektion brachte, ist dabei noch der harmloseste Grund. Es sind Wilhelms Neurosen, seine Scheu vor literarischen Erotizes sowie empörte Reaktionen eines konservativen Bürgertums, die gerade auf der inhaltlichen Seite zu ganz neuen Schattierungen und Verläufen in den Geschichten führen. Das Faule und Träge, schreibt Wilhelm Grimm in den Anmerkungen zur großen Auflage letzter Hand von 1857, sei eine dem Menschen angeborene Neigung, die besonders gern geschildert und bis zur höchsten Spitze getrieben werde. Seit 2005 gehören die Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen zum UNESCO-Memory of the World, was ihre überragende Bedeutung für das kulturelle Erbe der Menschheit unterstreicht.
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Kinder- und Hausmärchen, Hg. Brüder Grimm zwischen 1812-15
Schmieds Katze, von Johannes Schmidt. Edition Das Labor 2025

Ähnlich wie die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm ist Johannes Schmidt kein Märchenonkel, sondern ein unermüdlicher Sammler deutscher Worte, Neologismen und solcher, die aus dem nach Konrad Duden benannten Nachschlagwerk gefallen sind. Als Herausgeber verfährt er bei „Schmieds Katze“ mit Versatzstücken, Anspielungen und Zitaten, die an Samples eines Musikers erinnern. Er folgt damit der Spur der Katze. Der Stil ist von einem hypotaktisch gebauten Satzsystem geprägt, das von einem Rhythmus, einer unterlegten Musikalität durchzogen ist.
Weiterführend → Das ´Autosoziobiografische Schreiben` lebt von der Verknüpfungskompetenz, die das Ganze des kulturellen Lebens überblickt. Lesen Sie dazu auch den ersten Hinweis: „Zu den Quellen“.
→ Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm in einem Rezensionsessay.