Das ´Autosoziobiografische Schreiben` unterläuft Kunsterwartungen, es hinterfragt das Klischee hinter dem die Wirklichkeit beginnt… Sinn besteht darin zu wissen, wann man darauf verzichten sollte, das Leben lesen zu wollen.

Hinterher kann man es zur Erfolgsgeschichte verklären. Der Weg zum Erfolg war eher mühsam. In der Anfangszeit traten Jarvis Cocker und Peter Dalton mit wechselnden Musikern auf. Sie verwendeten kurzzeitig die Namen „Arabicus“ (nach der Kaffeesorte Arabica) oder „Arabicus Pulp“ (nach dem Spielfilm Pulp), ehe sie sich im November 1978 auf Pulp festlegten. Nach der Veröffentlichung von Freaks und internen Turbulenzen hatte die Band gegen 1987 ein stabiles Line Up. Cocker zog 1988 nach London und begann, Film am St. Martin’s College zu studieren. Mit Separations entstand in dieser Zeit ein weiteres Album, dies wurde aber erst 1992 veröffentlicht. Erst der Erfolg von My Legendary Girlfriend verschaffte der Band einen Majordeal bei Island Records.
„Wenn Britpop voller Slapstick und bedeutsamer Ausgelassenheit ist, aber jenseits seiner winzigen Synthese der Popgeschichte viel Substanz vermissen lässt, dann sind Pulp vielleicht die Band, die dem Ganzen den Boden unter den Füßen wegzieht.“
Roy Wilkinson
Different Class ist eine Hymne auf den englischen Proletarier, es ist ein Album, das wie wohl kein anderes die Realität des Lebens in England Mitte der 90er Jahre einfängt. Cockers Texte behandeln drei Themen: Sex, Scham und soziale Klasse. Und sie erkunden auf bissig clevere Weise eine Reihe verschiedener Wege. Cocker fängt nicht nur das Verhalten seiner Figuren perfekt ein, sondern begreift auch die Nuancen der Sprache und schafft so ein dichtes Porträt des Lebens in den Vorstädten und der Arbeiterklasse. Es ist ein leidenschaftliches, witziges und gelehrtes Album voller scharfsinniger, brillanter Beobachtungsgabe – ein fein gezeichnetes Bild des unvollkommenen, klassengespaltenen Großbritanniens mit all seinen Absplitterungen, Fettflecken und dem Dreiecksverhältnis von Macht, Klasse und Sex.
„Jeder begehrt das, was er nicht haben kann. Die Armen begehren den Wohlstand und die weniger Armen das einfache Leben.“
Der Legende nach war der Kauf eines Casio MT-500-Keyboards der Zündfunke. Cocker erwarb ihn beim Music & Video Exchange in Notting Hill. Keine Stunde nachdem er aus dem Laden nach Hause gekommen war, hatte er damit die Drei-Akkord-Sequenz (C/F/G) für die mitreißende Klassenhymne Common People geschrieben,. Das Lied war von einer griechischen Studentin inspiriert, das Cocker während seines Studiums am St. Martin’s College of Art and Design kennengelernt hatte, einer Klassentouristin, die fand, „dass arm cool ist“.
„Please understand. We don’t want no trouble. We just want the right to be different. That’s all.“
Pulp erhebt den Stilbruch zum Konzept. Auf Different Class vereint sich die gesamte Wirklichkeit der Denkformen, wir hören Lyrics, die man als frühe Form des ´Autosoziobiografische Schreiben`s in Versform lesen/hören kann. Möglicherweise sind es nurmehr Protestsongs, die soziale oder politische Missstände thematisieren und sich gegen eine Autorität richten. Die Band aus Sheffield steht damit in einer langen Tradition. Im typischen Gestus junger Dichter hasste etwa Arthur Rimbaud die kleinbürgerliche Enge seiner Vaterstadt, was z. B. in dem satirischen Gedicht À la musique (An die Musik) zum Ausdruck kommt, er ist der erste Rockstar der Poesie. Dichter wie der Dub-Poet Linton Kwesi Johnson, der Punk-Poet John Cooper Clarke, der Lo-Fi-Poet Dan Treacy, der Spät-Expressionist Peter Hein, der Lizard-King Jim Morrison und die Grandma des Punk Patti Smith nutzten Musik als Transportmittel für ihre Lyrics. Die Spoken Word-Poetin Anne Clark präsentiert Lyrics als dunkles Echo der Seele, sie steht darin Siouxsie Siox, dem Urtyp eines Riot Grrrls, in nichts nach. Und eigentlich könnte auch: „Dylan gut ohne den Nobelpreis für Literatur weiterleben und -arbeiten. Er ist auch kein genuiner Kandidat, insofern er halt kein ‚richtiger‘ Schriftsteller ist, sondern ein Singer-Songwriter.“, schriebder LiteraturwissenschaftlerHeinrich Detering. Der Musikkritiker Ben Watson bezeichnet Zappas Mothers of Invention als „politisch wirksamste musikalische Kraft seit Bertolt Brecht und Kurt Weill“ wegen deren radikalem, aktuellen Bezug auf die negativen Aspekte der Massengesellschaft. So besehen war Frank Zappa neben Carla Bleys Escalator Over The Hill einer der bedeutendsten und prägendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die Komponistin führt uns vor Ohren, dass Improvisation ein gesellschaftspolitisches Idealmodell ist.
Der Protestsong erfüllte eine politische und aufklärerische Funktion und trug zur Mobilisierung, Solidarisierung und Reflexion über soziale und politische Konflikte bei.
Die Songs von Cocker sind hervorragend komponierte Erzählungen aus dem britischen Alltagsleben. Er besitzt die Fähigkeit, die bürgerliche Kultur aufs Korn zu nehmen, die Arbeiterklasse zu verehren und inmitten des banalen, tristen Lebens der britischen Unterschicht eine Erleuchtung und Liebe zu finden. Seit die Politik zu einem Teil der Unterhaltungsbranche geworden ist, war dies wahrscheinlich die letzte authentische Form der politischen Äußerung.
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Different Class war das fünfte Studioalbum von Pulp. Es erschien am 30. Oktober 1995 bei Island Records und PolyGram.
Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens, von Jarvis Cocker. Aus dem Englischen von Harriet Fricke und Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2022

Weiterführend → Eine Erinnerung an das Kronjuwel des Britpop.
→ In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Luther Blissett beschreibt den Weg von Proust zu Pulp.