Der unwiderstehliche Charme des Reizlosen

 
Der Tag der Architektur ist ein Fest- oder Gedenktag. Wir besichtigen aus diesem Anlass die Rückseite der Bausünden in Neheim.

„Hübsch hässlich habt ihr’s hier“, bemerkte Heinz Rühmann in seiner Rolle als Pater Brown im Film  Er kann’s nicht lassen den Bewohnern einer Insel vor Irlands Küste. Es ist die wörtliche Übertragung des englischen pretty ugly.


Die Existenz der Dinge liegt im Sauerland im Wahrgenommen-Werden. Die Natural Born Neheimer können sich der Welt nur noch über die Kombination kultureller Versatzstücke nähern. Bedauerlicherweise hat Neheim keine Städtepartnerschaft mit Abbott Rock, deshalb gibt es keinen Heinz Rühmann-Platz sondern den Bexleyplatz, eine Erinnerung an eine Kleinstadt bei London, die inzwischen in die britische Hauptstadt eingemeindet wurde.

Die Welt an sich kennen die meisten Natural Born Neheimer nicht. Und dennoch brauchen sie die anderen Menschen. Nicht nur aus praktischer Sicht einer Städtepartnerschaft, um in der Welt zu überleben, sondern auch, um sich selbst gewahr zu werden und sich im wahrsten Sinne des Wortes zu erkennen. Der Regiolekt ist ihr zweiter Körper, daneben gibt weitere unterschiedliche Sprachen und daher ebenso viele Kulturen. Die ursprünglichen Ordnungssysteme, welche das Erleben der Sauerländer in Bahnen lenken sollten, waren einst Religionen. Später kamen philosophische und politische Ordnungssysteme hinzu.

Leben ist im Sauerland nur in bestechender Hellsichtigkeit möglich. Die Natural Born Neheimer kennen lediglich die Bilder, die sie von der Welt und sich selbst nach Maßgabe ihrer triebhaften Bedürfnisse und der daraus ableitbaren Wünsche machen. Die Welt, in der sie leben, wird durch die Sinngebung des Sinnlosen bedeutungsvoll. Eigentlich ist in der Gelingenskultur des Konsumkapitalismus ein Scheitern nicht vorgesehen; selbst wenn, dass ist diese als Chance zu verstehen. Am Bexleyplatz in Neheim offenbart dabei ein Zerrbild der rationalen Stadtplanung. Ohne Reduktionismus ergibt hier nichts einen Sinn.

In Neheim gibt es am Tag der Architektur, der heute stattfindet, eine laufende Freiluftausstellung der Architektur. Hier können Interessierte die Rückseite der Bausünden seit den 1980-er Jahren besichtigen. Der Eintritt ist frei, wenn man eingehend darüber nachdenkt, kostet er garantiert den Verstand.

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Weiterführend Wie bei vielen Motiven von Martin Vaselow betrachten wir das Anderssein des Bildes gegenüber der Realität, die sich nur in einem Foto augenblickshaft fixieren lässt. Das Motiv gewinnt dabei an Materialität, die den Betrachter außerdem zur Skepsis gegenüber dem Kleinstadtidyll zwingt. Der Herausgeber würdigte den Fotographen Martin Vanselow, dessen Streetphotography er sehr schätzt.

Walter Benjamins Kleine Geschichte der Photographie (1931) war einer der frühesten Versuche zum Verständnis der immer noch jungen Technik und weist zugleich voraus auf seine berühmte Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935).

Zum Thema ´Photographie` lesen Sie auch den Nachruf über Peter Meilchens Lebenswerk und den Essay 50 Jahre Krumscheid / Meilchen über die Retrospektive im Kunstverein Linz sowie den Essay zum Buch / Katalog-Projekt 630.

Im Kino gewesen. Geweint. – Eine Betrachtung des Dokumentafilms über Vivian Maier.