Zerfallende Welt

Die Neheimer sind zu Verbrauchern mutiert. Sie verbrauchen ein Produkt. Sie verbrauchen ihre Lebenszeit, so lange bis nichts mehr vorhanden ist.

Stolpersteine der innerstädtischen Möblierung, der Bexleybrunnen

Im Gegensatz zu anderen Städten der alten Bundesrepublik wurden die größten Bausünden in Neheim nicht nach Weltkrieg #2 verübt, sondern mit dem Umbau der Innenstadt seit 1982. Eine falsche verstandene Moderne mündete in eine gradlinige Effizienz-Ideologie. An diesem Beispiel beschreibt die Kosten-Nutzen-Relation das Verhältnis zwischen eingesetzten Mitteln und erreichtem Erfolg und gibt damit den Stadtplanern die Auskunft über die Wirtschaftlichkeit der Maßnahme. Der Optimierungswahn findet sich in dem, was die Stadtvewaltung euphemistisch „Neheimer Sanierung“ nannte, seinen frostigen Ausdruck.

Fast zeitgleich wurde Neheim durch die Autobahn 445 erschlossen. 1984 erfolgte die Verkehrsfreigabe für das Teilstück zwischen der Anschlussstelle Wickede und dem Übergang zur A46 bei Neheim. Dieser Triumph des Grauen, Harten und Kalten wurde als „Meilenstein zum Lückenschluss“ gefeiert. Mit gusseisener Pragmatik ersetzte die Autobahn die Umgehungsstraße; kaum jemanden irritiert das verhaltensunterkühlte Nützlichkeitsargument.

Die funktionalistische Kälte, mit der die Innenstadt zerstört wurden, schmerzt alte Bewohner ganz besonders. Der Kaltsinn zieht sich durch den gesamten Umbau zur „Einkaufsstadt“, der dem Nachkriegsmuster erfolgte, es wurden, neue sachliche anmutende Gebäude hochgezogen. Die Stadtplaner rissen nicht nur das Alte Rathaus in Neheim ab, sondern auch Viertel aus der Gründerzeit und sogar früheren Epochen, um Platz zu schaffen für die ´Flächensanierung`. Bauten aus dem Klassizismus mussten einem Hoch-, Kauf- oder Parkhaus weichen.

In Neheim wurden nicht nur breite, autobahnähnliche Straßen hackbeilartig in die Stadtlandschaft geschlagen, um die einzelnen Stadtteile miteinander zu verbinden, sondern ein Tunnel unter der Innenstadt gebaut, um den Verkehr in die Wege zu leiten. Damit triumphierte die Ideologie der autogerechten Einkaufsstadt und eine sogenannte ´Funktionstrennung`: Wohnen und Arbeiten sollten säuberlich voneinander separiert, die Idee der gemischten Viertel mit Gewerbe, Geschäften und Wohnungen wurde unerbittlich abgeräumt, um eine neu geordnete, sauber gegliederte und aufgelockerte Stadt zu schaffen.

Eine nüchterne Siedlung wie „Moosfelde“ bieten zwar Zentralheizung, leistetet aber trister Anonymität und Entfremdung unerbittlich Vorschub. Sie sind im Außenbereich tote Viertel, wo nur die Funktion ´Wohnen` in engen Räumen, möglich ist. Hier gibt es keine Geschäfte, keine Kneipen und keine Cafés. Die Architekten schufen dem Reißbrett ein soziales Brennpunktviertel, dort wo man eigentlich die sozialen Probleme beheben wollte.

Sehr Ambivalent ist auch die Rolle der deutsche Nachkriegserfindung: der Fußgängerzone, mit der die Bewohner der ´Einkaufsstadt` beglückt wurde. Einerseits ist sie autofrei – andererseits sorgt sie dafür, dass der Verkehr unbelästigt von Fußgängern umso ungehinderter drum herum fließen kann. In der „City“, wie es damals modisch hieß, wird ganz im Sinne der Funktionstrennung nicht gewohnt oder ausgegangen, sondern eingekauft und gearbeitet. Und so sieht die in Richtung Mendener Straße verlängerte Fußgängerzone nach Ladenschluss auch aus: TROSTLOS!

Vierzig Jahre danach finden gut gemeinte Reparaturmaßnahmen statt, die wiederum Jahre andauern. Straßen werden in Wohnbereichen verengt, Lücken durch Nachverdichtung geschlossen, die schlimmsten Bausünden wieder abgerissen und durch postmoderne Architektur ersetzt. Aber die Zerstörungswut der Vergangenheit lässt sich so nicht einfach wettmachen, Neheim ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein…

Das Leben bleibt… eine Baustelle.

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Neheimer Sanierung, Hochglanzbroschüre in Katalogform, 1988

Schmieds Katze, von Johannes Schmidt. Edition Das Labor 2025

Im Befragen dessen, was Heimat ausmacht, geht es um den Verlust lokaler Identität. 5760 Neheim ist ein affektiv besetzter Ort mit ehemals prägenden Wörtern, Dialekten, Berufsbezeichnungen, ihren Erhebungen und Abgründen, ihrem lokalen Wissen, ihren geheimen Geschichten und Überlieferungen. Die Vertellstückskers zeigen, wie ´Autosoziobiografisches Schreiben` im Hinterland betrieben wird. Im Land der 1000 Berge existieren Tiefenzeiten und Rückzugsräume. Es gibt im Sauerland noch Orte, in denen die Bürger jenseits des medialen Zerstreutseins zu Hause sind, in denen natürlichen Gegebenheiten und geschichtlichem Gewordensein sie mit anderen aufgehen können. Ähnlich wie bei Annie Ernaux steht auch für den Herausgeber Johannes Schmidt die Thematisierung von Klassismus in diesen Erzählungen im Vordergrund. Er verwandelt sich in einen Kehrichtsammler der Tatsachen, die Bagatellen des täglichen Provinzlebens werden in bizarre scheinenden und möglichst unterhaltsamen Geschichten festgehalten.

Weiterführend → Der Herausgeber würdigte den Fotographen Martin Vanselow, dessen Streetphotography er sehr schätzt. Er freut sich über die Zusammenarbeit für diese Online-Publikation weil Vanselow nicht nur faszinierende Bilder aus dem Alltag hervorholt, sondern weil diese Momentaufnahmen nebenher auch großartige Sozialstudien sind.